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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)


Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Von Claire von Glümer.
II.

„Bald folgten wir der Mutter nach Wien,“ fährt die Gestorbene in ihren Aufzeichnungen fort, „wo auch mein Vater eine kleine untergeordnete Stellung am Burgtheater erhielt und ich mit meinen beiden Schwestern dem Balletmeister Horschalt übergeben wurde.

„Das Wiener Kinderballet war damals weltberühmt und in Wahrheit auch das Reizendste, Feenhafteste, was man sehen konnte. Horschalt war ein Genie in seinem Fach, ein Mensch voller Phantasie, der mit seiner Kinderwelt wahrhaft Zauberisches leistete. So lange ich mit meinen Schwestern bei diesem Ballet war, blieben die Productionen noch in gewissen Grenzen und überschritten auch die Kräfte der kleinen Künstler nicht, – wenigstens was die Aufgaben selbst betraf – denn sonst war das Balletleben wohl dazu gemacht, die Kräfte der armen Kinder aufzureiben. Ich erinnere mich, daß wir wochenlang, während ein neues Ballet einstudirt wurde, um acht Uhr Morgens zur Probe mußten und drei Uhr Nachmittags erst wieder nach Hause kamen. Aber auch jetzt nur zu einer kurzen Ruhe, denn um sieben Uhr Abends begann die Probe auf’s Neue und dauerte oft so lange, daß wir erst gegen ein Uhr Nachts erschöpft und ermattet, oft auch mit Spuren von Mißhandlungen in unsere Betten krochen, denn Horschalt schlug unbarmherzig zu, um „die Bande“ der kleinen Tänzer in Ordnung zu halten.

„Ich war eins der anstelligsten unter diesen Kindern und avancirte sehr bald zum ersten Liebhaber, den ich mit viel Grazie und Gewandtheit zu geben pflegte. Den ersten rauschenden Applaus des überfüllten Theaters an der Wien erhielt ich in dem Ballet das Waldmädchen, dasselbe Sujet, das Weber unter dem Namen Sylvana componirt hat. Ich hatte darin eine große Erzählung pantomimisch vorzutragen. Die Handlung spielte in Rußland, ich war als Kosake gekleidet und mußte der Fürstin – die von meiner Schwester Betty gegeben wurde – die Meldung machen: der Fürst Gemahl habe ein wildes Mädchen im Walde gefunden, dasselbe wäre nur durch List, mittelst eines Schlaftrunks zu überwältigen gewesen und solle nun, noch immer schlafend, in’s Schloß gebracht werden. Den Fürsten gab der später berühmt gewordene Berliner Tänzer Stullmüller, und das Waldmädchen ein reizendes Kind von sieben bis acht Jahren, Angioletta Mayer, die als erwachsenes Mädchen nach München gekommen ist.

„Es folgten nach und nach eine Reihe von Ballets, die reizend erfunden waren und vollendet dargestellt wurden, aber immer in den Schranken des Kinderballets blieben. Eins der beliebtesten hieß die Wäschermädchen und erregte große Heiterkeit durch den Contrast, daß alle diese schneeweiß gekleideten Mädchen Schornsteinfeger zu Liebhabern hatten. Ich war der Anführer dieser schwarzen Schaar und der Liebhaber des ersten Wäschermädchens. Ihr Vater, ein alter, strenger Mann, widerstrebte unserer Liebe, aber endlich wird er dadurch erweicht, daß ich mich in den brennenden Schornstein seines Hauses stürze, das Feuer lösche und dadurch sein Hab und Gut errette. Auf den Proben war ich ängstlich, in den brennenden Schlot zu springen, und mehrmals mißlang der Versuch. Aber endlich verlor der Balletmeister die Geduld, faßte mich beim Kragen und warf mich kopfüber in den Schornstein hinunter. Glücklicherweise fing mich der Theaterdiener auf, der die Flamme heraufblies, so daß ich ohne ernste Beschädigung davonkam. Nur mein Haar, das ich damals noch nach Knabenart trug, war verbrannt, so daß es ganz kurz abgeschnitten werden mußte. Natürlich machte ich nun auf den nächsten Proben keine Umstände mehr, sondern sprang muthig in den brennenden Schlund.

„Ich wurde sehr bald der Liebling unseres Zuchtmeisters, der mich unter den ihm untergebenen Kindern als das gewandteste und intelligenteste erkannte. Besonders leistete ich für ein Kind von zehn bis elf Jahren Bemerkenswerthes in der Mimik. Aber so gewandt, geschmeidig und geschickt ich war, eben so wild und unbändig war ich auch. Meine tollen Streiche haben mir zu jener Zeit viel Prügel eingetragen, und ich war so ganz jungenhaft in meinen Neigungen und Manieren, daß man es aufgeben mußte, mich in Mädchenkleider zu stecken. War mir doch kein Baum zu hoch, kein Graben zu breit! – und so hingen gar oft die leichten Stoffe und langen Gewänder nach kurzer Zeit zum größten Theile in unkenntlichen Fetzen an Hecken oder Bäumen.

„Aus dieser Zeit ist mir besonders eine Scene in lebendiger Erinnerung geblieben. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Gärtner und pflegte den schönen Garten, der damals mit unserer Wohnung verbunden war, mit großer Sorgfalt. Er war immer trostlos, wenn ihm die Beete zertreten oder Blumen und Früchte abgepflückt wurden, was freilich – und zwar hauptsächlich von mir – oft genug geschah. Im Garten stand ein prächtiger Birnbaum mit halbreifen Früchten beladen, und diese lockten mich so unwiderstehlich, daß ich mir eines Tages in der Dämmerstunde alle Scrupel aus dem Sinne schlug und in die höchsten Zweige hinaufkletterte, weil ich da oben die goldigsten Birnen schimmern sah, die ich mir denn auch vortrefflich schmecken ließ. Mein Vater, der gegen Abend immer noch einen Gang durch den Garten machte, entdeckte mich da oben in meiner luftigen grünen Höhe, wo ich mich voll Uebermuth hin und her schaukelte, wie eine Pirole, die gegen Abend die höchsten Wipfel sucht, um ihr Abendlied zu pfeifen. Ich glaube, ich habe da oben auch getrillert, sonst hätte mich mein Vater wohl kaum entdecken können; aber er hatte mich gesehen, und nun sollte ich herunter steigen, um meine gerechte Strafe zu empfangen. Mir kam es jedoch ganz unglaublich vor, daß mein Vergnügen mit Schlägen endigen sollte; ich erklärte rund heraus, daß ich meinen erhabenen Sitz, wo ich mich so sicher fühlte und wo ich dem warmen, schönen Augustabend so selig in die glänzenden Augen gesehen hatte, nicht verlassen würde, wenn man mir nicht das Versprechen vollständiger Verzeihung gäbe.

„Auf diese Capitulation wollte mein Vater nicht eingehen, ich wollte nicht davon ablassen. Meine Mutter war inzwischen als Succurs erschienen, Geschwister und Domestiken waren auch gekommen, um den Ausgang mit anzusehen – ich blieb unerschütterlich. Endlich zogen sich Alle zurück, in der Hoffnung wahrscheinlich, daß ich beim Einbruch der Dunkelheit freiwillig heruntersteigen und mich der Strafe unterwerfen würde – aber sie irrten sich!, es wurde Nacht, ein leichter Wind bewegte die Blätter meines Baumes; der Mond ging auf und ergoß eine magische Helle über den ganzen Garten. Schon damals traten scharfe Contraste in meinem Wesen hervor. So wild und unbändig ich gewöhnlich war, so bewegte eine stille klare Mondnacht meine junge Seele doch schon damals bis in ihre tiefsten Tiefen. Bange und frohe Ahnungen stiegen in mir empor, ich wiegte mich in märchenhaften Träumen da oben in meinem Wipfel und hatte die Welt unter mir vergessen. Aber plötzlich mahnte mich die nahe Thurmuhr, die eben Mitternacht schlug, an die Geisterstunde, und nun überfiel mich eine kindische Angst. Ich erwartete jeden Augenblick, Elfen und Feen zwischen den Zweigen hervorrauschen zu sehen, um ihre Mondscheintänze zu beginnen. Glücklicherweise machte die Stimme meines Vaters dieser Furcht vor Geisterspuk ein Ende. Er kam von ernstlicher Sorge getrieben, redete mir freundlich zu, herab zu kommen, und versprach auch, mir jede Strafe zu erlassen. Wenige Augenblicke später war ich, behend wie ein Kätzchen, auf ebenem Boden angelangt und entschlüpfte durch schnelle Flucht den Händen meines Vaters, der doch wohl Lust haben mochte, mich – wie er zu sagen pflegte – an meinem blonden Schädel zu zausen.“

Die Kränklichkeit Friedrich Schröder’s nahm um diese Zeit in bedenklichster Weise zu. Im Sommer 1818 ging er nach Karlsbad – und kam nicht zurück. Am 18. Juli starb er fern von den Seinen; der Künstler und Protestant wurde in irgend einem abgelegenen Winkel des Karlsbader Friedhofs zur Ruhe gelegt, und seiner Tochter ist es später, trotz der ängstlichsten Forschungen, nicht gelungen, sein Grab wieder aufzufinden. – Schon zu Lebzeiten des Vaters war Wilhelmine mit ihren Schwestern vom Ballet zurückgetreten. Sie begann nun ihren mangelhaften Schulunterricht zu ergänzen und bereitete sich unter Anweisung ihrer genialen Mutter – von deren Leistungen im tragischen Fach sie immer mit Begeisterung sprach – zu größeren dramatischen Aufgaben vor.

Ihres wissenschaftlichen Unterrichts nahm sich ihr Stiefbruder, Wilhelm Smets, der einzige Sohn aus Sophie Schröders erster Ehe, mit großem Eifer an.[1] Er war als Hauslehrer nach Wien

  1. Sophie Schröder, Tochter des Schauspielers Bürger, verheirathete sich 1795 mit dem Schauspieldirector Stollmers zu Reval. Als diese Ehe ein Jahr später getrennt wurde, nahm Stollmers seinen eigentlichen Familiennamen Smets wieder an und kehrte zur juristischen Laufbahn zurück.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_185.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)