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wenig Nutzen gezogen. Im Norden, wo auch die klimatischen Verhältnisse günstiger sind, beutet man nicht blos aus, was die Natur geschaffen hat, sondern man verbessert ihr Werk und fügt zu ihren Straßen künstliche hinzu. Nirgends sonst ist man in der Entfernung oder Umgehung von Wasserfällen und Stromschnellen, in der Reinigung der Flußbetten, im Canal- und Schleußenbau so thätig, wie hier. Insbesondere hat das große Becken der Seen im Norden zu Werken Veranlassung gegeben, welche eben so beispiellos sind, wie jenes wahrhafte Süßwassermeer selbst. Nicht nur von New-York, auch von Neu-Orleans gelangt man zu Schiff in jene Seen, die zusammen eine Küste von 2500 Wegstunden Länge haben, die Wellen werfen, wie der Ocean, und deren Oberfläche 300 Fuß höher als das Becken des obern Mississippi liegt, während ihr Grund eine merkwürdige Einsenkung, tiefer als der Wasserspiegel des atlantischen Meeres, darstellt.

Der amerikanische Nordwesten, der die großen Seen umgibt, entwickelt sich in einer Weise, die man fast Schwindel erregend nennen könnte. Die Union besitzt viele Städte, die wie Pilze aus der Erde geschossen sind, aber wenige können sich an Schnelligkeit des Wachsthums mit Chicago vergleichen. Vor zwanzig Jahren dehnte sich an dem Ufer des Michigansees, wo jetzt dieser Haupthafenplatz des Staates Illinois sich erhebt, Urwald aus, von wenigen Lichtungen mit Blockhütten unterbrochen, und jetzt wohnen hier mehr als 100,000 Menschen, von denen 1855 schon 6610 Schiffe von zusammen 1,608,000 Tonnen Gehalt mit Getreide und Mehl befrachtet wurden. In einem Jahre (1858) sind dort zweitausend neue Häuser entstanden, und auch an allen übrigen günstigen Punkten der Seen regt es sich mächtig. Die ungeheure Menge von Ackerbauerzeugnissen, welche dieses Gebiet versendet, greift bereits stark in den Getreidehandel der alten Welt ein. Man wird dies begreiflich finden, wenn man weiß, daß allein Chicago in den Jahren 1855–1858 mehr als 90 ½ Millionen Bushel (zu 60 Pfund Weizengewicht) in seine Speicher aufgenommen hat.

Die Vereinigten Staaten und England wetteifern, diese Handelsbewegung an sich zu ziehen. Beide theilen sich in die Ufer der Seen so, daß den Engländern etwa 1000, den Nordamerikanern 1500 Wegstunden derselben gehören. Bis jetzt waren die Nordamerikaner ihren Gegnern voraus. Sie bauten zugleich Eisenbahnen und Canäle, so daß es ihnen gelang, den Handel jener Gegenden zu beherrschen, da die Engländer sich längere Zeit darauf beschränkten, den St. Lorenz schiffbarer zu machen. Dieser mächtige Strom ist der Ausfluß der Binnenseen. Sucht man seine Quelle da, wo der längste von den Zuflüssen des Obern Sees entspringt, so erhält man für seinen Lauf mindestens neunhundert Stunden. Berechnet man seinen Lauf von da an, wo er, aus dem östlichen Ende des Ontario-Sees heraustretend, den Namen St. Lorenz annimmt, so erhält man nicht viel mehr als 300 Stunden. Immerhin eröffnet er auch in der letztern Ausdehnung dem Handel ein bedeutendes Gebiet, das durch seine Zuflüsse noch erweitert wird. Die bedeutendsten der letzten, sind der Ottawa und der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_221.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)