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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

No. 15. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die Geschiedenen.
Von Hermann Schmid.
(Fortsetzung.)

Der Doctor zündete die ausgegangene Cigarre wieder an, und indem er einen Schluck aus dem Weinglase that, sagte er: „Das ist schlimm, sehr schlimm! Eine Milchversetzung vermuthlich … verkehrte Behandlung dazu … ich kenne das! – Nun, und weiter?“

„Das Weitere kannst Du Dir denken. Alles, was nur die Kunst der Aerzte vermochte, wurde von mir und Theresens Eltern aufgeboten, kein Opfer wurde gescheut, sie wieder herzustellen – es war vergebens. In sich gekehrt und still brütete sie fortwährend vor sich und hatte sogar für mich und ihre Tochter das Gedächtniß verloren. Zuletzt machten Anfälle von Tobsucht es unvermeidlich, sie in einer Irrenanstalt unterzubringen – war es doch zugleich die letzte Hoffnung, sie wieder hergestellt zu sehen …. O mein Freund, wie soll ich Dir den Auftritt schildern, als sie aus dem Hause schied, das durch sie eine Stätte des Glücks, ein Tempel der Freude gewesen! Als ich sie, die einst lächelnd, blühend, voll Frohsinn und Entzücken in dasselbe eingezogen war, nun verwelkt, gebrochen, zerstört hinausgeleiten mußte in den entsetzlichen Aufenthalt! Ich begreife noch jetzt nicht, wie ich es überlebte!“

Der Doctor blickte ihn theilnehmend an. „Ich glaube Dir’s, lieber Freund; Du bist allerdings bitter heimgesucht. – Aber was gedenkst Du nun zu thun? Was soll ich mit der ganzen Sache?“

„Der Arzt der Anstalt schildert Theresens Zustand unverändert als denselben und gibt keine Hoffnung, daß er ein Ende nehmen werde. Ich habe Zutrauen zu Deinem medicinischen Wissen; deshalb habe ich Dich gebeten, hierher zu kommen, um mit mir die Kranke in der Anstalt zu besuchen, zu beobachten, für ihre Heilung zu wirken und mir den Trost zu geben, daß nicht alle Hoffnung verloren ist.“

„Ich bin herzlich gern zu dem traurigen Dienst bereit,“ erwiderte der Doctor, indem er aufstand und dem Freunde die Hand schüttelte. „Du hast Recht, Du hast mich allerdings nicht wegen etwas Unbedeutendem bemüht, sei daher überzeugt, daß ich alle meine Kraft aufbieten werde, zu helfen oder doch zu lindern. Indessen thut es noth, daß Du Dich selbst zusammen nimmst und Dich Deinem Kummer nicht zu sehr hingibst – das Kopfleiden, von dem Du mir erzählt, verträgt solche Aufregungen nicht … Wann wollen wir aber hin?“

„Ich habe mich für den morgigen Tag vom Dienste frei gemacht; wenn es Dir also genehm ist, kann es morgen geschehen,“ antwortete Rudolph. Als der Doctor beistimmend nickte, erhob er sich und rief: „Laß uns nun die Ruhe suchen, wir werden gesammelter Kraft bedürfen!“

Am andern Morgen, eh’ es kaum hell geworden war, rollte ein Wagen mit den beiden Freunden der Irrenanstalt Wallhof zu, und hielt nach einigen Stunden in einem schönen waldumschlossenen Thalgrunde vor der Thür des verhängnißvollen Hauses.

Als auf das Glockenzeichen der Pförtner öffnete, und aus dem breiten lichten Hausgange, in welchen man hineinsah, ein kühler Luftzug strich, wankte Rudolph und drohte, vor innerer Erschütterung zusammenzubrechen. Weindler ermunterte ihn. „Fasse Dich,“ sagte er, „oder bleibe hier, wenn schon die Erwartung Dich so sehr angreift. Du verträgst den wirklichen Anblick nicht – also laß mich allein gehen, ich bedarf Deiner nicht.“

„Nein,“ rief Rudolph abwehrend, „es war nur ein vorübergehender Schwindel – ich will und muß sie sehen! Es war nichts als eine eigenthümlich beklemmende Empfindung, die mich beim Oeffnen der Thüre befiel … es ward mir so unheimlich, als ob sie sich für mich selbst öffnete! Gott, Gott, wie entsetzlich muß es sein, in solchem Zustande zu leben! …“

Nach einigen Augenblicken raffte er sich zusammen und schritt an des Doctors Seite gefaßt durch die hallenden Gänge. Die Gespräche mit dem Arzte und Vorstand der Anstalt waren bald beendigt, und in kurzer Zeit standen sie vor Theresens Zelle.

„Treten Sie immer ein,“ sagte der Arzt, „Nummer acht ist keine von den gefährlichen Irren. Die tobsüchtigen Anfälle haben sich längst verloren und einer tiefen Melancholie Platz gemacht, die bisher trotz aller Versuche nicht zu verscheuchen war. Alles, sogar die Musik, welche die Kranke so sehr geliebt haben soll, habe ich vergebens angewendet. Sie leidet an dem fixen Gedanken, daß sie bis zum Abend eine bestimmte Arbeit für ihr Kind zu Ende bringen müsse, und so sitzt sie den ganzen Tag über und zupft wortlos an irgend einem Fleckchen Zeug, das man ihr reichen muß, und beginnt morgen, wo sie heute aufgehört hat.“

Man trat ein. In der Fenster-Ecke des weißgetünchten unscheinbaren Zimmers saß, am Boden kauernd, eine weibliche Gestalt mit bleichem ausdruckslosem Gesicht, über das glänzend schwarzes Haar in wirren Flechten herunter fiel. Vor sich auf den Knieen hielt sie ein Stückchen Leinwand, das sie emsig und ohne aufzublicken, in feine Fasern zerzauste. Sie wurde durch den Eintritt der Kommenden nicht gestört und schien sie nicht im Geringsten zu beachten.

Rudolph hatte wieder eine Anwandlung, wie beim Eintritt in das Haus; ohne den stützenden Arm des Freundes wäre er zusammengesunken. „Sammle Dich!“ rief dieser. „Rede sie an; ich will sehen, welche Wirkung Deine Stimme auf sie hervorbringt.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_225.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)