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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

abgemessene Gang der kalten Tochter Albions; nicht der edle, kühne Schritt der schönen Polin. Nichts von alle dem, und vor allem nicht der sinnende, liebreizende Gang der deutschen Frau, wo jede Bewegung Gefühl, jede Gebehrde Grazie und Anmuth athmet; es ist ganz einfach ein mühsames Sichdahinschieben, ein schwerfälliges Vorwärtskommen ohne Leben, ohne Reiz. Man sieht es der Petersburger Dame auf den ersten Blick an, sie ist nicht gewohnt, sich auf den Trottoirs einer belebten Straße oder auf den Gängen einer freundlichen Promenade zu bewegen. Ihre Promenade ist das Parquet der Salons, wo sich ihre Bewegungen auf die einstudirten ceremoniösen Verbeugungen des Empfanges oder auf die künstlerisch schmachtende Stellung des Tanzes beschränken, und die frische Luft genießt sie in der Regel nur auf die weichen Kissen ihres Wagens hingestreckt, um, wenn sie nach Hause kommt, sich um so ermüdeter und gelangweilter, in eine womöglich noch weichere Sophaecke zu werfen und dort, aller häuslichen Beschäftigung fremd, entweder eine höhere geistige Speise in irgend einem französischen Romane zu suchen, oder sich den Träumen an ein Glück hinzugeben, das ihr indessen doch so nahe liegt, wenn sie es nur nicht immer in dem Strudel der Bälle und Gesellschaften, in dem Taumel der sinnlichen Lüste und Vergnügungen suchen wollte.

Petersburger Schlitten.

Es ist indeß auch nicht Mode, zu Fuß zu gehen; das sähe aus, als hätte man keine Equipage; höchstens kann ein erster Wintertag, wie der eben beschriebene, sie die Convenienzen, den guten Ton so weit vergessen lassen, einen Spaziergang zu wagen.

Und welche Wohlthat ein solcher Spaziergang in der frischen reinen Winrerlust für diese verzärtelten Treibhauspflanzen ist, sieht man alsdann an den lieblichen, frischen Farben, welche diese blassen, nur an die Stubenluft gewöhnten Wangen überziehen.

Es ist übrigens nur der Reiz der Neuheit, die Wiederkehr des Winters, was sie heraustreibt; in einigen Tagen hat sich die blasirte Dame daran gewöhnt, es scheint ihr schon unschicklich, daß sie sich so oft auf der Promenade gezeigt, und bald sehen wir sie daher, auf die weichen Kissen eines eleganten Schlittens gestreckt, sausend an uns vorüberfahren.

An solchen schönen Wintertagen bietet der Newsky-Prospeet einen der interessantesten Anblicke dar: an beiden Seiten die gefüllten Trottoirs, das langsame Hin- und Herwogen der müßigen Fußgänger, und in der Mitte auf der breiten Straße das rasende Durcheinanderstürmen der leichten, von feurigen Rossen gezogenen Schlitten. Wie ein Blitz gehen sie an uns vorüber, und ehe wir noch Zeit gehabt, irgend ein schönes Frauengesicht näher ins Auge zu fassen, ist es schon weit verschwunden und verloren in der Menge; wie ein reizendes Phantom ist es an uns vorübergegangen, und läßt uns nur die Erinnerung an ein schönes Bild, eine Erinnerung, für die wir indessen stets glücklich genug sind, unsern Lethe zu finden. Nur ab und zu sieht man in diesem sturmwindartigen Wogen, wie einen festen Punkt in diesem Rennen, Gekreuze und Gejage, irgend einen altersmüden Droschkengaul keuchend seinen Schlitten hinter sich herschleppen. Den Lenker dieses invaliden Vierfüßlers hört man in der Regel alles andere Schreien und Rufen durch sein schrilles „beregis“ (Nehmt Euch in Acht) übertönen, nicht etwa weil er befürchte, irgend Jemand in seinem Schneckengange zu überfahren, sondern weil er, mehr für seine eigene Sicherheit und die seines Gefährtes besorgt, von den hinter und an ihm vorbeisausenden flüchtigen Rennern in Grund und Boden gefahren zu werden befürchtet.

Ein Versuch, an solchen Tagen, besonders gegen zwei oder drei Uhr, den Prospect zu kreuzen, ist ein waghalsiges Unternehmen, und man hat es jedenfalls nur der Geschicklichkeit des russischen Kutschers zu verdanken, wenn man unbeschadet die andere Seite erreicht. Es wäre übrigens ein so rasendes Fahren auch gar Petersburger Schlitten nicht möglich, wenn nicht das Begegnen der Fuhrwerke dadurch vermieden würde, daß sich dieselben stets auf der rechten Seite halten müssen, und man riskirt daher höchstens von einem uns überholenden Fuhrwerke, im Fall es das unsrige faßt, eine Strecke weit gratis mitgenommen zu werden. – Doch nicht allein die Straßen und öffentlichen Plätze haben ein anderes Aussehen erhalten. Die Newa, dieser breite, majestätische Strom wälzt nicht mehr ihre tiefen Wasser schwer und bedächtig dem Meere zu. Einige Tage lang hat sie freilich, als empöre sich ihr Stolz gegen die ihr angelegten Fesseln, die aus dem Ladogasee einhertreibenden Eisschollen, ohne ihnen einen längeren Aufenthalt in ihrem weiten Becken zu gestatten, dem Meere zugeführt; doch immer dichter wird das Getreibe, Massen auf Massen folgen; hier und dort setzen sich schon einige umfangreiche Schollen hartnäckig an das Ufer an, jeden ihrer vorbeitreibenden Cameraden aufhaltend, um so, mehr und mehr verstärkt, endlich den Stolz des schönen Stromes zu brechen und auch ihn in die winterlichen Fesseln zu schlagen. Noch einige scharfe Frostnächte, und es ist gelungen. Die Newa steht; ihre blauen Fluthen sind gebannt, und bald sehen wir ihre feste Decke in einen wahren Tummelplatz verwandelt. Es sind freilich nur erst Fußgänger, die jetzt, die Brücken von Menschenhand verschmähend, nach allen Richtungen sich kreuzen, um so den Weg von dem einen zum andern Ufer abzukürzen. Man sieht es Jedem an, er setzt mit einem gewissen stolzen Selbstbewußtsein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_236.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)