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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

horchte sie der Entscheidung – jetzt nach dieser Rede des Vaters war kein Zweifel mehr! Die unglückliche Mutter, die sie unbekannt in ihrem Leiden geliebt, die das stete Ziel ihrer geheimen Sehnsucht gewesen, sie stand vor ihr – ihre ganze Seele flog der rührenden blassen Leidensgestalt entgegen – mit dem Aufschrei: „Mutter – meine Mutter!“ stürzte sie zu ihren Füßen hin und verbarg schluchzend das Gesicht in ihrem Schooße.

Therese zog sie zu sich empor und überdeckte sie mit glühenden, athemlosen Küssen. „O keine Worte mehr,“ rief auch sie unter stürzenden Thränen, „an diesem Herzen fühle ich, daß ich willkommen bin!“

Eine Secunde lang waltete Schweigen im Zimmer; draußen wurde die Hausglocke gezogen und tönte gellend in die unheimliche Stille.

„Verzeih’ mir, Rudolph,“ sagte Therese jetzt, „verzeihe meiner Ungeduld, Euch wieder zu sehen, daß ich Dich so plötzlich überfallen habe. Mein Erscheinen hat Dich erschreckt … ach, ich weiß ja wohl, daß ich nicht mehr jene Therese bin, die Du einst die Deinige nanntest – aber Du kannst Dir denken, was in mir vorging, als ich durch ein entsetzliches Ereigniß meine Besinnung wieder erhielt, – als ich mich an jenem entsetzlichen Orte erkannte, – als es mir zu entfliehen gelang! Hätte ich zögern können, zu Dir zu eilen? Verzeihe mir um meiner Leiden willen – nach so langer Zeit wieder laß mich am Schlage Deines Herzens fühlen, daß Du mir meine Stelle darin bewahrt hast … .“ Sie ging auf Rudolph zu und breitete die Arme aus, ihm an die Brust zu sinken … er vermochte in der Qual, die ihn durchtobte, nur wieder ihren Namen zu stammeln.

Da öffnete sich die Thüre; in dem Spalt wurde der Kopf des Dienstmädchens sichtbar, das in gleichgültigem Tone rief: „Der Herr Rath und Fräulein Anna möchten in’s Wohnzimmer kommen. Die Frau Räthin ist nach Hause gekommen.“

Therese taumelte in das Sopha zurück … Sie war noch bleicher geworden und ihr Auge starrte erschreckend. „Wer?“ lallte sie, „habe ich recht gehört? … Rudolph … es ist noch jemand in Deinem Hause, die diesen Namen trägt …? O nun, nun begreif’ ich Alles! Nun weiß ich, warum kein armes Wort des Grußes von Deinen Lippen will! Ich war lebend eine Todte für Dich – ich bin auch in Deinem Herzen gestorben!“

Das Wort der bittersten Enttäuschung war ausgesprochen – es war der heftigste Schlag des Gewitters, das auf Rudolphs Seele lag; er befreite sie und gab ihm die Fähigkeit des Denkens und Handelns zurück. Tief aufathmend, aber gefaßt, wendete er sich Theresen zu, um zu begütigen und zu erklären.

Ihr Entgegentreten verhinderte ihn daran. Sie hatte sich gesammelt und stand in würdiger Haltung vor ihm. „Verzeihen Sie, mein Herr,“ sagte sie mit gewaltsamer Ruhe, „ich hatte vergessen, daß über meiner Abwesenheit, die mir ein Augenblick geschienen, Jahre vergangen sind … ich habe keine Rechte mehr an Sie!“

„Therese,“ rief Rudolph innig, „nicht diesen Ton! Ich schwöre Dir …“

„Beschwören Sie nichts, mein Herr,“ erwiderte sie, „ich habe erfahren, was Eide bedeuten! – Kein Wort mehr … ich würde meiner Würde damit vergeben. Leben Sie wohl und verzeihen Sie mein Eindringen in ein Haus, worin keine Stelle mehr ist für mich. Ich bestrafe mich selbst für meine Uebereilung, indem ich es schweigend verlasse und nicht einmal zu wissen begehre, wer mich verdrängt hat.“ Sie machte einen Schritt gegen die Thüre zu, als dieselbe aufging und Amalie, über das lange Ausbleiben der Ihrigen befremdet, eintrat.

Therese erkannte die Jugendfreundin augenblicklich; ebenso schnell errieth und durchschaute sie den Zusammenhang. „Du bist’s?“ rief sie. „Dich treff’ ich hier? O, nun weiß ich Alles! Nun seh’ ich, Du hast den Dank abgetragen für alle Liebe, die ich zu Dir trug von Jugend auf! Freilich, Dir mußte es leicht werden, mich zu verdrängen – im Bunde mit meinem eigenen Andenken hast Du Dich in ein treues Herz geschlichen, und mich daraus verdrängt –“

Die peinliche Scene lähmte alle Betheiligten. Auf Amalien hatte Theresens plötzliches Erscheinen seine erschütternde Wirkung nicht verfehlt, aber auch bei diesem gefährlichen Anlaß bestand ihr klarer und verständiger Geist die Probe. In dem Bewußtsein, daß sie sich auch nicht die leiseste unreine Regung vorzuwerfen hatte, sammelte sie sich schnell und erwiderte gelassen: „Therese, so sehr Dein Erscheinen die Verhältnisse dieses Hauses verwickeln mag – ich begrüße Dich im Leben und in der Genesung mit jener wahren Liebe, die stets für Dich in meinem Herzen war … ich begreife Dein Leiden, Deinen Schmerz … ich fühle ihn mit und verzeihe Dir Deine Vorwürfe. Blick’ um Dich, sieh auf Gatten und Tochter … das ist meine Antwort.“

„Ich fühle, daß ich kein Recht habe, Jemand Vorwürfe zu machen,“ entgegnete Therese mit eisiger Kälte, „darum will ich Sie auch von dem Vorwurfe meiner Gegenwart befreien.“

Rudolph war in das Sopha gesunken, Amalie trat neben ihn – sie fühlte bei seinem Anblick nur zu gut, daß es doppelt galt, ihre Aufgabe bei ihm zu erfüllen. Therese schritt der Thüre zu; Anna, an ihren Arm gehängt, folgte zögernd.

„Anna!“ rief Rudolph schmerzlich, als er es bemerkte. „Wo willst Du hin?“

Hoch aufgerichtet trat Therese vor das Mädchen, als wollte sie dasselbe schützen und verdecken … „Alles habt Ihr der Verlassenen und Verstoßenen geraubt – freut Euch des Besitzes, auf den ich verzichte, aber was mein ist vor Gott und Welt, mein Kind, sollt ihr mir nicht entreißen.“

Anna stellte sich neben sie; der Trotz ihres Wesens brach aus ihrer ganzen Haltung hervor – sie war ganz das Bild der Mutter im Kleinen, sie gehörte offenbar zu ihr, sie hatte das empfunden und gewählt und schien entschlossen, sich ebenfalls zur Wehre zu setzen. „Ich gehe mit meiner Mutter,“ rief sie – und stand, hastig von dieser fortgezogen, an der Thüre.

Dort wandte sie sich, blickte mit vorstürzenden Thränen nach dem Vater und Amalien und flog in deren ihr weit entgegen gebreitete Arme. Einen heißen Kuß drückte sie auf die Lippen des Vaters und auf Amaliens Wangen – dann riß sie sich los, eilte der Mutter zu und war mit ihr verschwunden.

Die Zurückbleibenden fanden keine Worte, das Vorgefallene zu besprechen. Rudolph’s bis zur gänzlichen Betäubung gesteigertes Kopfleiden machte es unerläßlich, ihn sogleich zur Ruhe zu bringen. Die Nacht verging unter schweren Sorgen, und noch der Morgen traf Amalien schlaflos und leidend, aber gefaßt neben dem Lager des Leidenden.




4.

Das Wiedererscheinen Theresens, ihre unerwartete Heilung konnten nicht verfehlen, allgemeines Aufsehen zu erregen. Die nächsten Tage brachten die Erklärung des fast wunderbaren Ereignisses.

In dem Irrenhause zu Wallhof war nächtlicher Weile ein Brand ausgebrochen und hatte in dem vielfach aus Holz gefügten Gebäude so ungeheuer rasch überhand genommen, daß es nach wenigen Stunden nur ein Trümmerhaufen war, und nicht einmal alle darin verwahrten Kranken gerettet werden konnten. Mehrere wurden verbrannt aufgefunden, Andere vermißt, und es war ungewiß, ob auch sie den Tod in den Flammen gefunden, oder ob sie diesem und dem Irrenhause durch die Flucht entkommen waren.

Theresens Zelle hatte sich in dem obern Stockwerke etwas abseits befunden, um ihr die Aussicht über die schönen Baumgruppen des Gartens zu gewähren, an denen sie manchmal ein Gefallen zu zeigen schien. In der durch den Brand entstandenen gräßlichen Verwirrung war sie in der entlegenen Zelle von den Wärtern und Aufsehern vergessen worden, und als man sich ihrer erinnerte, war es bereits nicht mehr möglich, durch die brennenden und einstürzenden Gänge zu ihr vorzudringen. Schlaflos in dem dunklen Gemache sitzend, sah sie dasselbe von den herandringenden Flammen allmählich immer heller und heller erleuchtet, ohne daß sie dadurch aus ihrem stumpfen Brüten aufgeweckt worden wäre. Endlich wurde die Helle blendend, die Hitze des Brandes machte sich bereits fühlbar, und nun erst begann in ihr eine Ahnung der Gefahr, in der sie schwebte, instinctmäßig aufzudämmern. Sie stand auf, bewegte sich gegen die Thüre, und als sie dieselbe verschlossen fand, taumelte sie mit wildem Aufschrei zurück und gegen das Fenster hin. Nun bemerkte sie den massenhaft durch die Ritzen und Fugen hereinqualmenden Rauch, hörte über sich das Krachen der einstürzenden Dachbalken, das wilde Geprassel der entfesselten Flammen und begriff mit einem Male, wie durch einen Blitzschlag, was vorging.

Es war gewissermaßen die Fortsetzung jener Nacht, welche sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_242.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)