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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

in ihren bisherigen Zustand versetzt hatte, und wie dort der Anblick des Feuertodes ihr die Sinne zerrüttete, so war es die unmittelbare Nähe desselben Schreckbildes, die das Band ihres Geistes gewaltsam abriß und ihr das Bewußtsein wiedergab.

Der erste vernünftige Gedanke war ihr Gatte, ihr Kind. Sie sah und hörte nichts von Beiden; sie rief – keine Stimme antwortete. Sie begriff nicht, wo sie sich befand und wie sie dahin gekommen war. Auch war ihr nicht viel Zeit zur Ueberlegung vergönnt; Unter und über ihr begannen bereits die Wirkungen des Feuers immer sichtbarer zu werden, und wenn sie nicht lebend die Beute der Flammen werden wollte, blieb ihr kein anderer Ausweg, als durch das Fenster. Mit der Riesenkraft der Verzweiflung rüttelte sie an demselben, bis die Vernagelung brach; von der Todesangst gehetzt, schwang sie sich hinauf und sprang, obwohl vor dem Abgrunde schaudernd, in die Tiefe. Glücklicherweise wurde die Heftigkeit des Falles durch die unten befindliche weiche Erde von Gartenbeeten gemildert, so daß sie unverletzt den Boden erreichte.

Der Lärm und das Geschrei der Löschenden, der Aufruhr des ganzen Hauses gestattete ihr, unbemerkt in dessen untere Räume zu gelangen und von dort einen Ausweg zu suchen. Um sich her sah sie mehrere ihrer bisherigen Leidensgenossen, die von den Wärtern fortgeführt, manchmal auch gewaltsam fortgeschleppt wurden – bei ihrem Anblick ward ihr auf einmal klar, wo sie sich befand, und in welchem Zustande sie bisher gelebt hatte. Zwischen dem gegenwärtigen Augenblicke aber und jenem, der sie in diesen Zustand gestürzt hatte, war für ihren Geist ein Zwischenraum nicht unterscheidbar. Es konnten ihrem Gefühle nach höchstens Tage sein, daß sie von den Ihrigen getrennt war, und sie pries Gott aus tiefster Seele, daß er das schreckliche Uebel, wenn auch durch ein nicht minder schreckliches Heilmittel, von ihr genommen und sie dem Leben, der Besinnung wiedergegeben hatte.

Trotz ihrer Schwäche und ihrer durch das Erlebte gesteigerten Abspannung dachte sie nicht daran, sich den Aufsehern des Hauses zu zeigen – ihr erster und einziger Wunsch war, die Ihrigen wiederzusehen. Dem brennenden Hause entronnen, wanderte sie rastlos auf dem ihr aus früherer Zeit im Allgemeinen bekannten Wege nach der Stadt zu. Sie wußte, daß dieselbe nur wenige Stunden entfernt sein konnte – so lange, hoffte sie, würden ihre Kräfte wohl ausreichen, und dann …. mit einem Meere von Entzücken überschauerte sie der Gedanke! … dann – in ihrem Hause, am Herzen ihres Mannes, beim Lächeln ihres Kindes, jedem Glücke zurückgegeben, dachte sie bald die entsetzliche Zeit zu vergessen, die schon jetzt wie ein verworrener, nur halbverständlicher Traum hinter ihr lag.

So erreichte sie beim Morgengrauen die Stadt und wurde nun bald durch die sonderbaren Seitenblicke, mit welchen die einzeln vorübergehenden Arbeiter oder Landleute sie musterten, daran erinnert, daß ihr Aeußeres sich wohl in einem Zustande befinden mochte, der es nicht räthlich machte, die Stadt unvorbereitet zu betreten. Die Fensterscheiben eines Landhauses vor den Thoren dienten ihr zum Spiegel; sie fuhr zurück, erschreckt von ihrem Aussehen, wie von der Zerrüttung ihrer Kleider. Es wurde ihr klar, daß sie, ohne aufzufallen, so nicht in die Stadt gelangen konnte. Sie mußte befürchten, daß ihr Hindernisse entgegengestellt würden, und so entschloß sie sich, den Abend abzuwarten und unter dem Schutze der Dämmerung unbeanstandet ihre Wohnung zu erreichen.

In einem dichten, unweit der Stadt gelegenen Wäldchen brachte sie den Tag in fieberhafter Erwartung zu, ohne Nahrung, als die, welche sie aus ihrem sehnsüchtigen Herzen schöpfte – ohne andere Stärkung, als einen tiefen Schlummer, in welchen allgemach die Natur sie wider ihren Willen versenkte. Ungemein gekräftigt und beruhigt, erwachte sie, als die Sonne bereits zu sinken begann. Noch wenige kurze Viertelstunden, und sie durfte sich unbesorgt auf den Weg machen. Nachdem sie, so gut es möglich war, ihr Haar und ihren Anzug geordnet, trat sie in das Thor und schlüpfte durch die ihr nicht fremden Hintergäßchen an den dunklen Wänden hin bis an den Platz, wo sie ihre Wohnung wußte. Unbeachtet gelangte sie bis dahin; unangehalten betrat sie das Haus und die zufällig offen stehende Wohnung.

... Als sie es, ihrer schönen Hoffnungen beraubt, am Arme ihrer Tochter schwankenden Schrittes wieder verließ, hatte sie keine bestimmte Vorstellung dessen, was sie thun wollte – sie wollte nur fort, so weit als möglich fort! Hätte sie nicht am Arme die Hand des Kindes gefühlt, nicht seine Stimme gehört, sie wäre in Versuchung gewesen, sich in die Zelle und ihre dumpfe Bewußtlosigkeit zurück zu sehnen – so grenzenlos elend fühlte sie sich. Anna mußte für sie denken und sie dachte für sie, denn in ihrem Innern war eine jener ungeheueren Umgestaltungen vorgegangen, welche oft in einem Momente den Knaben zum Jüngling, das Mädchen zur Jungfrau machen. Von ihr geleitet, suchten und fanden sie Unterkommen in einem nahen Gasthause und reisten vor Tagesanbruch in Theresens Heimath ab, wo nach Anna’s Bestätigung Theresens Vater noch am Leben war.

Um dem Greise und sich eine Scene des Wiedersehens zu ersparen, wie sie solche bereits erlebt hatte, schrieb ihm Therese von einer der letzten Stationen aus, theilte ihm das Vorgefallene mit und zeigte ihre Ankunft an. Sie wurde mit schmerzlicher Freude aufgenommen – denn das Haus des alten Mannes war einsam geworden durch den Tod seiner Frau, welche wenige Wochen zuvor dahin gegangen war, ohne den Trost, ihre Tochter der Welt wiedergegeben zu wissen. In der wie vom Tode erstandenen, ihm wie neugeborenen Tochter, in dem lieblichen Enkelkinde schlossen sich für den Rest seines Lebens noch zwei Spätrosen auf, deren Anblick ihn verjüngte und die bittere Beigabe vergessen machte, mit der ihr Blühen erkauft ward.

Umgeben und getragen von der Liebe des Vaters und Anna’s, trat auch in Theresens stürmisch fluthendem Gemüth nach und nach die Ruhe der Ergebung ein; sie fand sich in die neue, ungewohnte Lage zurecht und begann das Vorgefallene, Rudolphs Entschluß, seine Verbindung mit Amalien und die Gründe zu Beidem mit kälterem Blute zu betrachten und zu würdigen – aber in der Tiefe ihres Gemüths grub sich eine haßerfüllte Bitterkeit immer fester ein, je mehr sie äußerlich bemüht war, dieselbe zu verbergen. Den milderndsten Eindruck machte Anna auf sie, als sie nach und nach die vortreffliche liebevolle Pflege und Erziehung erkannte, die das Mädchen erhalten hatte, und als sie aus dessen Erzählungen erfuhr, daß ihr Name und ihr Gedächtniß in dem Hause niemals vergessen worden war. Sie schrieb in ihrer Vorstellung das Alles Rudolph und seinem überwiegenden Einflüsse zu, mit ihm waren daher ihre Gedanken in der Stille zur Versöhnung geneigt – aber bei der bloßen Erinnerung an Amalien wallte ihr Innerstes mit einer Heftigkeit auf, die jede Ahnung von Annäherung mit Abscheu von sich wies.

Auch aus Rudolphs Hause war das Glück entflohen, um nicht wiederzukehren – es war wie ein blitzgetroffener Baum; die verschont gebliebenen äußeren Zweige trieben und keimten noch, aber die stolze Krone, das Herz des Stammes, war gebrochen. Ueber die ersten peinlichen Tage und Wochen nach dem Vorgefallenen half Rudolphs Krankheit hinweg, die jede Erörterung unter den Gatten unmöglich machte. Während dessen hatte Amalie Zeit, sich die Lage und deren Pflichten vollkommen deutlich zu machen; sie rief sich das klare Recht ihrer Stellung lebendig vor die Seele und war entschlossen, es behauptend bei Rudolph auszuharren. Sie hatte das Gesetz für sich, und mit dem Gesetze die mächtige Stimme ihres Innern, daß nicht sie es so geleitet hatte, wie es gekommen war. Es war eine dunkle Fügung des Himmels; sie lebte der Ueberzeugung, daß er auch lösen werde, was er zu verwirren für gut befunden.

Das Einzige, was sie beängstigte, war der Zweifel über den Eindruck, welchen die erschütternden Ereignisse auf Rudolph hervorgebracht hatten, und den sie nur unsicher zu erkennen vermochte. In den Zwischenräumen, in welchen seine Fieberphantasien nachließen, lag er erschöpft und todesmatt mit geschlossenen Augen da, als wisse und empfinde er auch jetzt noch nicht, was um ihn und mit ihm vorgehe. In diesem Zustande war also über die Zustände seines Innern um so weniger etwas zu erfahren, als sie die kargen Momente der Erholung nicht stören und ihn schonen wollte. Aber auch die wirren Reden und Ausrufungen während der Fieberanfälle gaben keinen Grund zu bestimmten Vermuthungen; es hatte sogar den Anschein, als sei ihm auch während derselben ein Rest von Besinnung geblieben, vermöge dessen er Amaliens Anwesenheit erkannte und vor ihr zu verbergen suchte, was in ihm vorging. Eine dunkle Ahnung davon schauerte durch das Herz seiner Pflegerin und lehnte sich unwillig gegen die kalte Regel auf, die der Verstand vorschreiben wollte.

Rudolph genas; noch einmal widerstand die kräftig angelegte Natur den mörderischen Schlägen, womit das Leben auf sie eindrang;

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_243.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2020)