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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

und befand sich noch im vollen, ungeschwächten Besitz seiner geistigen Kräfte. In gewohnter, unermüdlich schaffender Thätigkeit brachte er den größten Theil des Tages zu. Die Abende verlebte er im Kreise seiner Familie und der ihn besuchenden Freunde, unter heiterem geistreichen Gespräche, Lectüre, musikalischen Unterhaltungen. Auch sein mächtiger körperlicher Organismus schien der nagenden, zerstörenden Zeit unbezwinglichen Widerstand zu leisten. Ungebeugt trug und bewegte er, früher ein Apollo, jetzt ein Zeus, die hohe, kräftige Gestalt mit gewohntem königlichen Anstande.

So schien es, als ob der Tod es nicht wagte, an den herrlichen Greis heranzutreten; es schien, als bedürfe der Tod erst eines Vorwandes, um sein Recht auch diesem Sterblichen gegenüber geltend zu machen. Der Vorwand war aber jetzt gefunden; es war jene leichte Erkältung. Nach einer schlaflosen Nacht ließ Goethe seinen Hausarzt, den Hofrath und Leibarzt Dr. Vogel rufen, zu dessen ärztlicher Kunst er unbedingtes Vertrauen hegte, und den er überhaupt seiner vorzüglichen geistigen Eigenschaften wegen sehr schätzte und gern bei sich sah. Dem ärztichen Blicke entging nicht, daß hier ein höchst bedenklicher Zustand vorlag. Das strahlende Auge war matt und starr, die Gesichtszüge waren apathisch und unbeweglich, der Kranke klagte über große Eingenommenheit des Kopfes, über schmerzhafte Schwere der Glieder. Dabei hatte sich ein Zustand von Schwerhörigkeit eingestellt, so daß Goethe nur die mit sehr lauter Stimme an ihn gerichteten Worte verstand.

Die Kunde von Goethe’s Erkrankung hatte sich rasch in der Stadt verbreitet. Das Haus wurde nicht leer von Anfragenden, und obgleich im Laufe des Tages die Krankheitserscheinungen einen Nachlaß zeigten, so ging doch bereits an diesem Tage das Gerücht im Publicum, Goethe liege im Sterben – ja man sagte ihn bereits todt.

Aber so leicht und schnell ergab sich die gewaltige Natur dem Feinde nicht, der seine Bande um sie zu schlagen begann. Der Kopf wurde wieder frei, die Kräfte kehrten mehr und mehr zurück, auch der Appetit stellte sich wieder ein. Mit jedem Tage schritt die Besserung weiter vor; der Kranke freute sich, die gewohnte Thätigkeit nun bald, ja schon am nächsten Tage wieder aufnehmen zu können. Doch diese Freude war leider eine kurze; schon in der nächsten Nacht, vom 19. auf den 20. März, trat die Krankheit mit erneuter und wesentlich erhöhter Heftigkeit auf, der Kranke wurde von den heftigsten Brustbeklemmungen gepeinigt und vertauschte in fortwährendem angstvollen Wechsel das Lager mit dem danebenstehenden Armstuhl. Den vom Arzt gegen Morgen angewendeten wirksamen Mitteln gelang es bald, diesen qualvollen Zustand zu beseitigen und dem Leidenden Ruhe zu verschaffen, sie vermochten es aber nicht, die deutlich auf seinem Haupte liegende Hand des Todes wieder zu entfernen. Die letzte Stunde des langen, reichen Lebens – so lang und reich zugleich, wie es wenigen Sterblichen beschieden war – sie nahte sichtbar und unvermeidlich heran.

Sanft ruhend, saß der Kranke in seinem bequemen Lehnstuhl, den er lebend nicht wieder verließ. Vom Mittag des 21. März an traten bisweilen Sinnestäuschungen und leichte Delirien ein, abwechselnd mit vollem Bewußtsein und Beweisen seiner wohlwollenden Theilnahme an den ihn umgebenden Personen. Diese waren, außer dem Hofrath Vogel, Goethe’s Schwiegertochter, seine drei Enkel Walther, Wolfgang und Alma, sein Copist John und der Bediente. Allen anderen näheren und ferneren Freunden war auf ärztliche Anordnung der Zutritt zu dem Sterbenden untersagt.

Vor Goethe’s Haus standen Gruppen ängstlich wartender Menschen, die jeden Augenblick die Todesnachricht zu hören fürchteten; nahe und ferne Freunde des Goethe’schen Hauses fuhren vor oder kamen zu Fuß, um sich drinnen nach dem Stande der Krankheit zu erkundigen. Für sie war ein ärztliches Bulletin ausgelegt, während nur sehr wenigen, nahe befreundeten Personen gestattet wurde, Goethe’s Arbeitszimmer, neben welchem der Sterbende sich in seinem Schlafcabinet befand, zu betreten.

Es war am 22. Vormittags gegen zehn Uhr, zwei Stunden vor Goethe’s Tode, als ein Wagen vorfuhr, aus dem eine Dame stieg. Hastig eilte sie in das Haus und frug mit bebender Stimme den ihr entgegentretenden Diener: „Lebt Herr von Goethe noch?“ – Es war die Gräfin B., eine enthusiastische Verehrerin Goethe’s und von diesem wegen ihrer geistvollen, lebhaften Unterhaltung, wegen ihrer Anmuth, und Schönheit sehr gern gesehen. Mit beklommenem Herzen stieg sie die Treppe hinauf. Plötzlich blieb sie stehen, horchte hoch auf und wendete sich dann nach dem Bedienten um. „Was ist das?“ frug sie befremdet. „Musik im Hause? Mein Gott, Musik heute, in diesem Hause?“ – Auch der Diener stand da in horchender Stellung, aber er war bleich geworden und zitterte. Er vermochte der Gräfin nur durch ein stummes Achselzucken zu antworten.

Diese eilte durch die ihr bekannten Räume nach dem Hinterhaus zu Goethe’s Arbeitszimmer, wo ihr als einer Bevorzugten der Einlaß gestattet wurde. Frau von Goethe trat zu ihr aus dem Cabinet in das Zimmer, und beide Frauen sanken sich weinend in die Arme. „Aber ich bitte Sie, beste Ottilie,“ sagte die Gräfin B., nachdem sie die Mittheilungen jener über den Zustand des Sterbenden empfangen, „ich bitte Sie, was ist das für Musik, die mir entgegentönte, als ich Ihr Haus betrat? Ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu dürfen.“

„Also auch Sie haben es gehört?“ entgegnete Frau von Goethe, indem ein Schauer sie zu überrieseln schien. „Unerklärlich! Seitdem der Tag angebrochen ist, klingen diese wunderbaren Töne uns von Zeit zu Zeit in’s Ohr, Herz und Nerven erschütternd.“

Und in diesem Augenblicke tönte wieder, wie aus einer andern Welt herüber, sanft anschwellend ein langgehaltener Accord, ebenso sanft wieder verklingend, verhauchend. „Haben Sie gehört, gnädige Frau?“ frug mit leiser Stimme der treue John, aus dem Schlafcabinet in die zum Arbeitszimmer führende Thüre tretend. „Ich glaube ganz deutlich unterschieden zu haben, daß die Klänge dicht vor den Fenstern im Garten entstanden.“

„Nicht doch,“ entgegnete die Gräfin B., „es war ohne Zweifel draußen auf dem Corridor.“

Man öffnete die Fenster der nach dem Hausgarten sehenden Arbeitsstube und blickte suchend hinaus. Der Wind spielte leicht mit den blätterlosen Zweigen der Bäume und Sträucher; von fern hörte man einen durch die Straße fahrenden Wagen; aber nichts war zu entdecken, was die geheimnißvolle Musik erklären konnte. Die Frauen gingen hinaus auf den Corridor – auch hier dasselbe Resultat. Und während sie noch suchten, erklangen in harmonischer Auseinanderfolge wieder zwei, drei Accorde, und zwar, wie sie meinten, aus dem Arbeitszimmer heraus.

„Ich glaube mich nicht zu irren, es ist ein ferner vierstimmiger Gesang, von welchem einzelne Töne bis hierher dringen,“ sagte die Gräfin, mit der Freundin wieder in das Zimmer tretend.

„Mir schienen die Töne von dem Anschlagen eines Claviers in der Nachbarschaft herzurühren,“ erwiderte Frau von Goethe. „Ich glaubte dies so deutlich zu vernehmen, daß ich heute Morgen in die Häuser der Nachbarschaft schickte und bitten ließ, man möge aus Rücksicht auf den Sterbenden das Clavierspielen unterlassen; aber von allen Nachbarn ging mir die Versicherung zu, man wisse wohl, daß der Herr Geheimerath sehr krank sei, und man nehme viel zu aufrichtig Theil, als daß Jemand sich beikommen ließe, die Ruhe durch Musik zu stören. Ah, jetzt wieder!“

Leise, aber scheinbar ganz in der Nähe, erklang abermals die geisterhafte Musik, dem Einen wie ferner Orgelton, dem Anderen wie Vocalmusik, dem Dritten wie Clavierspiel klingend. Der Rath S., der eben mit dem Doctor B. im Vorderhause seinen Namen unter das anfliegende Bulletin einzeichnete, sah seinen Begleiter verwundert an und frug: „Waren das nicht die Töne einer Harmonika?“

„Es schien mir auch so,“ meinte der Doctor; „vermuthlich irgendwo in der Nachbarschaft.“

„Aber es war mir doch ganz so, als wäre es hier im Hause,“ versetzte S., mit dem Doctor auf die Straße tretend.

So ertönte denn die unerklärliche Musik bis kurz vor dem Hinscheiden Goethe’s, verschiedenen Personen deutlich vernehmbar, mit bald längeren, bald kürzeren Pausen, bald hier, bald da, aber allem Anschein nach immer im Hause, ober dicht darüber oder dicht daneben. Alle Bemühungen, ihren Ursprung zu entdecken, blieben fruchtlos.

Die Gräfin B. hatte das Haus wieder verlassen, Ottilie saß neben dem Sterbenden, der ihre Hand oft in der seinen gefaßt hielt. Die Auflösung ging sanft und schmerzlos vor sich. Leichte Phantasien ließen erkennen, daß das herrliche Organ hinter seiner breit und hochgewölbten Stirn aufhörte seine regelmäßige Function auszuüben. „Warum laßt ihr Schillers Briefwechsel da liegen? hebt ihn doch auf!“ sagte Goethe, die großen hellbraunen Augen, deren strahlender Glanz fast schon erloschen war, auf ein am Boden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_249.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)