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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Landwehr und Landsturm gingen durch’s Land und riefen das Volk zur Befreiung des Vaterlands auf.

Der König war außer sich, als er Nachricht von diesen gewichtigen Ereignissen erhielt. Sein dynastischer Stolz empörte sich darüber, daß man ohne seinen Willen dies Alles gethan, daß man ihn zwingen wollte, die russische Partei zu ergreifen, daß Stein eine preußische Provinz im Namen Alexanders verwaltete! Und nun die Angst um den Thron, um die Zukunft! Noch standen die Franzosen im Lande, in Berlin selbst; Preußen war mit Frankreich alliirt – welche Gefahr rief nicht dieser Bruch der Verträge durch York hervor! Welches Verderben mußte nicht über das Land und die Dynastie hereinbrechen, wenn Napoleon wieder Sieger wurde? York wurde abgesetzt, der Vertrag von Tauroggen annullirt – – es geschah wahrlich nur, um die Franzosen zu täuschen, denn der König war unmerklich anderer Ansicht geworden.

Scharnhorst hatte ihn gewonnen! Er war gleich nach dem Eintreffen der wichtigen Nachrichten zum König geeilt und hatte ihn beschworen, jetzt endlich sich aufzuraffen, diese günstige Gelegenheit, vielleicht die letzte, wie einen Wink des Himmels zu betrachten, um das Joch abzuschütteln. Es gelang, den König zu bestimmen; nicht frohen Muthes ließ er geschehen, was die Getreuen thaten, sondern rathlos und bangend, bald von Napoleon um neue Hülfstruppen bestürmt, bald vom Czaren zum Bündniß aufgefordert, von Stein, von Schön, von York und Scharnhorst und den Besten seines Landes bestürmt. Düster und zagend sah er in die Zukunft, ohne Vertrauen und ohne Hoffnung; aber er folgte willenlos dem mächtigen Rauschen, das durch’s Land ging und im Nu die dumpfe Masse des Volks mit der Begeisterung für den Kampf um die Freiheit erfüllte. Am 22. Januar 1813 flüchtete der König von Berlin nach Breslau; – am 3. Februar erlangte Scharnhorst den Aufruf zur Bildung der freiwilligen Jägercorps, in den folgenden Tagen andere Verordnungen, welche die Entpuppung seiner seit Jahren betriebenen militairischen Schöpfungen ermöglichte. Friedrich Wilhelm glaubte nicht anders, als daß die Revolution, die losgebrochen war, gegen ihn gerichtet sei; er sah mißtrauisch und bange drein und verdrossen darauf, daß die Gewalt der Umstände „das Volk an die Seite seines Souverains“ setzen wollte!

Vergeblich suchte Scharnhorst den König mit diesem Gedanken vertraut zu machen; der Monarch blieb zweifelnd, mißtrauisch und düster, ja, er betrachtete den biedersten aller Generäle wohl selber mit Argwohn. Jetzt saß er im Schlosse zu Breslau und blätterte ungläubig in dem Actenstück, das ihm Scharnhorst gegeben hatte. Immer und immer schien er zu sagen: „Ich glaube nicht an diese Zahlen; ich glaube nicht, daß das Volk für mich sich erhebt, ich traue ihm nicht!“ Da plötzlich tönt ein brausender Lärm von der Straße herauf; Hurrah und Jubelgeschrei erfüllt die Luft, die Fenster klirren vom Gerassel der Wagen und dem Vivatruf einer sich heranwälzenden Menge … Der König horcht erschrocken auf; Scharnhorst geht zum Fenster und meldet, vor Freude zitternd, daß die Freiwilligen von Berlin vor dem Schlosse ihres Königs vorüberziehen!

Friedrich Wilhelm sieht selbst herab, eine lange Reihe Wagen mit jungen, blühenden, freudigen Männern zieht vorüber, jubelnd und zum Schlosse hinauf die Hüte schwenkend, gefolgt und begleitet von zahllosem Volk. Und der König steht da gerührt und mit nassem Aug’. „Majestät,“ ruft jetzt Scharnhorst, „glauben Sie denn noch nicht an die Liebe Ihres Volkes?“ – Ja, jetzt glaubte er daran, dieser König! Die Thräne sagt’s, die über die Wange rinnt; die Hand zeigt’s, die zitternd und lebhaft herabgrüßt. Die Rinde des Mißtrauens, welche Erziehung und bittere Leidensjahre um sein Herz gelegt, begann sich zu lösen. Was hatte denn diese Nation auch gethan, daß ihr Fürst so schwer an ihre Tugendgröße glaubte? Aber das ist das alte Unglück der Könige, daß sie nicht an die freie Liebe ihrer Völker glauben können, daß sie nur Unterthanen, keine freien, selbstständigen Staatsbürger wollen! Was konnte ein König denn geben für so viel Liebe, so viel Treue, so viel Opfer?!

Noch immer war es nicht ausgesprochen, daß dieser preußische Aufstand gegen die Franzosen gerichtet sei, obwohl Niemand daran zweifelte. Alexander bat um diese Zeit den König, ihm den General Scharnhorst zu senden, mit Vollmachten zu einem Bündniß. Am 23. Februar reiste Scharnhorst nach Kalisch, wo denn am 28. der von allen Patrioten heißersehnte Vertrag mit Rußland abgeschlossen wurde, der den Kampf gegen Napoleon mit allen Kräften bestimmte. Am 15. März zog der Czar, begrüßt als Befreier, an der Spitze seiner Garden in Breslau ein; Preußen übersandte an demselben Tage Frankreich die Kriegserklärung. Und nun folgte Schlag auf Schlag: die Russen trieben die Franzosen aus Berlin; York nahte sich mit der durch Landwehren verstärkten ostpreußischen Armee. Am 17. März erschien der berühmte Aufruf Friedrich Wilhelms III. „An mein Volk“; am gleichen Tage ließ Scharnhorst die Errichtung der Landwehr und des Landsturmes verkünden. Proclamationen und Aufrufe folgten in betäubender Schnelligkeit und riefen es laut unter die Völker und in den Himmel hinein, daß der Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit begonnen habe!

Jetzt zeigte sich, was Scharnhorst geschaffen, auf was für festen Grund er gebaut. Außer der stehenden Armee konnte man im Nu schlagfertige Reservebataillone, 52 an der Zahl, aufstellen, lauter Männer, die Scharnhorst seit 1808 im Stillen als sogenannte Krümper hatte in den Waffen üben lassen. Sämmtliche Garnisonscompagnien gestalteten sich plötzlich zu Bataillonen; die Cavallerie bildete sich im Nu, da das Land die Pferde unentgeltlich stellte. Schon Ende März hatte dieser kleine preußische Staat 110,000 ausgebildete Truppen im Felde. Und die Landwehren! Wer wüßte es nicht, wie sie hinströmten, als der König gerufen, und Weib und Kind, Haus und Hof verließen, um sich vom Pfarrer für den kriegerischen Beruf segnen zu lassen! Buntscheckig, ohne Uniform, der Eine im Bauerkittel, der Andere im Stadtrock, der Dritte mit halber Uniform, schiefe Hacken am Stiefel und geflickte Jacken auf dem Leibe, so kamen sie zu den Waffenplätzen, nahmen die Mütze mit dem Kreuz von weißem Blech „Mit Gott für König und Vaterland“, alte Piken, schlechte Kuhfüße, verrostete Säbel – ein paar Groschen im Sack und scharfe Patronen. Was thut’s, ob sie schön und gedrechselt aussehen – schlägt doch ein schönes Herz unter diesen Lumpen und führt doch die herrlichste Begeisterung die schlechten Waffen! Scharnhorst hatte sich nicht getäuscht: die Vaterlandsliebe stellte eine unglaubliche Menschenzahl; binnen sechs Wochen waren 271,000 Streiter auf, den Beinen; d. h. von achtzehn Einwohnern Preußens war immer einer im Felde!

Die Würfel waren gefallen, der Krieg vor der Thür. Schon rückten die zusammengerafften Corps der Franzosen heran, um „diesem schlechten Gesinde!“ den Garaus zu machen. Scharnhorst flog von Stadt zu Stadt; er organisirte selber die Landwehren, half dem Fehlenden ab und sorgte besonders für Proviant, Munition und zweckmäßige Vertheilung der mangelnden Officiere. Am 4. April ging er zur Armee Blüchers nach Sachsen ab. Er war der Generalquartiermeister dieses braven Helden, der Kopf zu diesem nervigen Arm, den Blücher noch in Gneisenau, dem Schüler und Nachfolger Scharnhorsts, nach dem Ende der Siege verehrte.

Bei Großgörschen, am 2. Mai, ’s war just die erste Schlacht mit den Franzosen und Napoleon selbst – da haben die Blücher und Scharnhorst, die York und Gneisenau die Heldendegen mitsammen erprobt. An der Spitze der Schwadronen fegten sie ein, zwei, drei Mal übers leichenbesäte Schlachtfeld auf das brennende Kleingörschen und Rahna los, zuletzt noch Scharnhorst allein, im dichtesten Kartätschenfeuer, mit einer halben Schwadron halber Leichen im Bügel, die endlich, von der Natur überwunden, von den Pferden heruntersanken. Bei dieser letzten Charge dieses heißen und glorreichen Tages traf eine Kugel Scharnhorsts Bein – es war der Pfeil des Todes, der hiermit in’s Fleisch gedrungen.

Der General mußte nach Zittau, um die Heilung der Wunde abzuwarten. Seine Ungeduld ließ ihm nicht Ruhe, besonders als er erfuhr, daß der König, wegen der Zögerung Oesterreichs und der Erfolglosigkeit der bisherigen mörderischen Kämpfe, zaghafter denn je geworden war. In der Heißbegierde eines Patrioten edelster Art flog er vom Krankenlager, aus den Armen seiner ihn pflegenden Tochter zum Könige, um sich die Mission nach Wien zu erbitten. Er erhielt sie, und sie war sein Tod. Ohne sich Ruh und Rast zu gönnen, war er nach Wien und wieder zurückgeeilt. In Prag mußte der General bleiben; seine noch nicht vollständig geheilte Wunde war wieder aufgebrochen. Am 28. Juni, inmitten des Friedenscongresses zu Prag, der die Aera der großen Völkerkämpfe vorbereitete, die Aera der preußischen Landwehr, seiner Landwehr, an demselben Tage, wo Metternich in der berühmten Audienz bei Napoleon in Dresden Oesterreich frei und zum

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_254.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)