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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

die einzigen, die mit großem Kostenaufwande in jene Gebirgswinkel eindrangen, wo jetzt Gasthof-Paläste stehen und im Sommer ein drängendes Touristenleben sich jagt. Napoleon hatte durch den Bau der Simplonstraße zuerst den praktischen Beweis geliefert, daß im wildesten Gebirge Weg und Steg für den Verkehr zu ebnen sind; seinem Vorgange folgten, gedrängt von den größeren Anforderungen der Zeit, andere Thalschaften. Es entstanden die großen Alpenstraßen über den Gotthard, Bernhardin und Splügen. Hiermit erweiterte sich das Straßennetz im Alpenlande allgemein; der Aufschwung aller Industrie trug wesentlich dazu bei. Aber mit den verbesserten Verkehrsmitteln wurde es auch leichter, bequemer, billiger, das Wunderland der Schweiz zu besuchen; der Fremdenverkehr wuchs, und alle jene abgelegenen schönen Thalgelände, die bis dahin zur Außenwelt in kaum irgend einer Beziehung standen, wurden jetzt Reiseziel. – Die Wanderer, überrascht und schwärmend für des Bergvolkes Sitten und Gebräuche, Einfachheit und Genügsamkeit, nahmen neben seltenen Mineralien und gepflückten Alpenpflanzen auch Exemplare jener urthümlichen Holzgeräthe als Reise-Erinnerung mit in die Heimath. So kam’s, daß nach und nach aus den anfänglich für den eigenen Gebrauch geschnitzten Holzwaaren ein kleiner Luxus-Handelsartikel wurde. Die Schnitzler (deren es von ausschließlichem Beruf nur wenige gab) verwendeten mehr Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit, lauschten die Wünsche und Meinungen der Fremden schlau ab und suchten die ursprüngliche derbe Naivetät, welche diese Holzsculpturen kennzeichnete, durch allerlei verzierende Beigabe zu verschönern.

Ein junger Lauterbrunner, Heinrich Mugel, soll der Erste gewesen sein, der im ersten Decennium unseres Jahrhunderts Einfassungen zu Tintengläsern schnitzelte und so die in der Kindheit schlummernde, ungekünstelte Handfertigkeit auf ein bis dahin fremdes Gebiet übertrug. Als eigentlicher Begründer der Holzschnitzerei, wie sie in der Gegenwart eine namhafte Stellung einnimmt, wird jedoch allgemein Christen Fischer von Brienz bezeichnet. Jetzt beschäftigt sie einige tausend Menschen und setzt jährlich etwa eine halbe Million Franken um, die, da das Rohmaterial, beinahe an Ort und Stelle gewonnen, sehr billig ist, nahezu als reiner Verdienst anzusehen sind. Thun, die beiderseitigen Ufer des Thuner und besonders des Brienzer Sees, sowie das Hasli-Thal sind die Heimath dieser ihre Producte über die ganze civilisirte Erde verbreitenden Industrie.

Die meisten Arbeiten trugen bis in die jüngste Zeit das entschiedenste Gepräge des selbstwüchsigen Dilettantismus, der sich eine gewisse Fertigkeit in Behandlung stereotyper Formen angeeignet hat. Vor zwanzig Jahren konnten die meisten Schnitzler kaum eine Figur, eine Blume oder Arabeske anatomisch oder proportionirt richtig zeichnen, geschweige denn daß sie klare Begriffe von den Gesetzen der plastischen Composition, von den ästhetischen Bedingungen der Gruppirung gehabt hätten. Alles, was die Besten unter ihnen kannten und konnten, waren die der Natur unmittelbar abgelauschten Momente, und auch diese beschränkten sich wiederum nur auf Gegenstände, die ihrem Wahrnehmungsvermögen, dem Gesichtskreise der Alltäglichkeit entsprachen. Gemsen und Alpenrosen gaben die hervorragendsten Modelle für ihre Kunstfertigkeit ab, also Dinge, die ihres alpinen Charakters halber von den Fremden am Ehesten gekauft wurden. Ein droben in den Felsenlabyrinthen durch das Fernglas in seinen Stellungen beobachtetes Gratthier, eine als Schildwacht auf hervorragendem Vorsprung aufgestellte Vor-Geis, ein ruhig als Einsiedler grasender Gemsbock war vielleicht von einem talentvollen Schnitzler ziemlich naturgetreu wiedergegeben worden, und die ganze große Schaar der übrigen Gemsenschnitzler warf sich als Freibeuter über dieses Prototyp her und copirte es, je nach den subjektiven und individuellen Fähigkeiten, gut oder krüppelhaft. Woher kam es, daß man noch jüngst in den bedeutendsten Magazinen von Interlaken, Bern, Thun, Brienz etc. so wenig Gemsengruppen sah, in denen lebhafte Action ausgedrückt wurde? Eben daher, daß den Schnitzlern gute Vorbilder fehlten und sie von sich aus nicht fähig waren, das Thier anders als in ebenmäßig passivem Zustande darzustellen. Hierzu gesellte sich nach und nach noch eine den Fremden zu Lieb ausgebeutete Unwahrheit, eine Carrikirung der Natur. Die Schnitzler nahmen im Laufe der Zeiten wahr, daß Damen und elegante Touristen, welche für ihren Schreibsecretair, für ihren Curiositäten-Tisch daheim eine Gemsengruppe kaufen wollten, immer denen den Vorzug gaben, welche am kokettesten mit spindeldürren Steckelbeinchen, am ballettänzerhaftesten, am blasirtesten geschnitzt waren. Die „Holzschnäffler“, welche recht wohl wußten, daß die Gemse derben Knochenbau, eisenfeste Schenkel und gar nicht so feenhaft zarte Spinnebeine hat, die dem Thiere bei seinen lebensgefährlichen Sprüngen schlechte Dienste leisten möchten, zogen es vor, der Thorheit der Fremden, der sublimen Geschmacksverirrung zu huldigen und eine ganz neue Species von Gratthieren zu schaffen. Als ich im vorigen Sommer einem der besten Gemsenschnitzler, dem im Rosenlaui-Bade stationirten Jean Zurflüh[1] von Meiringen, dahin bezügliche Bemerkungen machte, holte er mir aus einem Winkel seines Ausstellungs-Glaskastens einen pompös in Nußbaumholz geschnitzten, strammen, derbbeinigen Gemsbock. „Den kauft mir kein Mensch ab,“ sagte er lachend, „d’Lüt wei derige Gamsche nöd.“ Später hörte ich die gleiche Aussage von anderen Schnitzlern bestätiget.

Seit den letzten Jahren hat sich bezüglich der einseitigen Auffassung, der incorrecten Zeichnung, der beschränkten Formen-Auswahl viel gebessert. Verschiedene Factoren haben dazu beigetragen. Zuvörderst gebührt der Regierung des Kantons Bern die Anerkennung, daß sie zur Aufhülfe besseren Zeichen-Unterrichtes und praktischer Anleitung im Jahre 1852 in Gadmen und 1854 in Meiringen unter Leitung des Bildhauers Lüthi von Solothurn Schnitzlerschulen etablirte und mit Geldmitteln begabte, in denen arme Knaben Unterricht empfingen. Ja, letzteren wurden sogar, da den meisten alle und jede Mittel fehlten, die erforderlichen Werkzeuge auf Staatskosten[WS 1] angeschafft und geschenkt. So wurde dem namentlich in diesem Kantonstheil furchtbar im Aufblühen begriffenen Proletariate auch von dieser Seite entgegengearbeitet. Leider soll der Besuch der Schulen so unregelmäßig gewesen sein, daß dieselben wieder eingehen mußten. – Von wesentlichem Einfluß auf die Geschmacksverbesserung war es ferner, daß große Unternehmer, mit guten Kenntnissen ausgerüstete Fachmänner die bisher von Schnitzlern ganz auf eigene Faust ausgeübte Kunst systematisch organisirten, fabrikmäßig zu betreiben anfingen, gute Vorlagen beschafften und auf eine Verbesserung und Abklärung des Geschmackes hinwirkten. Solche Progressisten sind namentlich die Herren Gebrüder Wirth in Brienz und Kunsthändler Wald in Thun, von denen gleich ausführlicher die Rede sein wird. Immerhin ist’s wunderbar, daß diese Leute bei ihrer enormen Material-Fülle, die sie in Modellen aus Paris beziehen, nicht einmal die vortrefflichen Rittmeyer’schen Zeichnungen in „Tschudi’s Thierleben der Alpenwelt“ kannten.

Ein, wenn man will, fabrikähnlicher Betrieb des Geschäftes nach bestimmten Branchen bestand schon früher; nur dadurch konnte jeder dieser Empiriker einigermaßen es zur Vollkommenheit in einem Fache bringen, daß er sein ganzes Leben hindurch ein und dasselbe Modell oder doch ganz verwandte bearbeitete. So ist noch heutigen Tages die Arbeit ziemlich ausgeschieden. Die kleinen, puppenhaften Berner-Oberländer Holzhäuschen, mit den steinbelasteten Dächern, grünen Jalousieen und fein durchbrochenen Lauben-Geländern, die so saftig-braun aus Mahagoni-Fournitüren und tannenem Resonanzbodenholz construirt werden und in allen feinen Spielwaarenläden Deutschlands zu haben sind, kommen meist aus Iseltwald (nördlich unterm Faulhorn am Brienzer-See gelegen), während das gegenüber am anderen Ufer liegende Oberried fast nur Salat-Bestecke liefert. Einer der besten Baumeister dieser pygmäischen Holzhäuser ist Ulr. Abegglen in Iseltwald. – Meiringen und Guttannen im Hasli-Thal galten lange Zeit als die Orte, wo die meisten Gemsengruppen geschnitten wurden, und wieder andere hatten besonderen Ruf für Cassetten u. dergl. m.

Jetzt ist Brienz, gegenüber den berühmten Gießbach-Fällen, unstreitig der Hauptort der Holzschnitzerei, und jeder Tourist, welcher das Berner Oberland bereist, sollte nicht unterlassen, die dort etablirten Fabriken und einzelnen Künstler zu besuchen. An der Spitze derselben steht das Etablissement der Herren Gebrüder Wirth (geborene Elsasser), die in einem langen Gebäude über 200 Arbeiter in den verschiedensten Branchen beschäftigen, an Ort und Stelle aber nichts verkaufen. Wir geben in beikommender Zeichnung einen ihrer Arbeitssäle. Ihre Magazine sind in Paris (Bv. des Italiens 17 und Rue d’Hauteville 40). Sie zählen die besten

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Staaskosten
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_262.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)
  1. Nicht zu verwechseln mit jenem Ruodi Zurflüh, den J. Scheer in seiner vortrefflichen Alpengeschichte: „Rosi Zurflüh“ kürzlich debütiren ließ. Allen Alpenfreunden möge bei dieser Gelegenheit die kernige Novelle empfohlen sein.