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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

an die 10,000 Fr. gehalten und der Messerschmidt die Ehe versprochen, um auch sie wieder sitzen zu lassen. Gewiß schütze der Staat auch ideale Güter, aber der Dr. A. habe nur sich selbst entehrt; und die Genossen dieser Selbstentehrung säßen auf der Anklagebank? Es bleibe erdenklich nur ein Recht auf Wahrheit übrig. Ein solches Recht gebe aber das Leben nicht, mithin könne das Gesetz es nicht durch Strafe schützen. Es sei schön, wenn alle Menschen nur die Wahrheit sagen möchten. Aber jeden Lügner zu einem Criminalverbrecher machen? Ueberdies verlange das Gesetz zum Betruge ausdrücklich eine Täuschung zum Nachtheile fremder Rechte; also neben der Wahrheit noch eine besondere Rechtsverletzung.

Der Vertheidiger der Messerschmidt hatte für diese noch besonders hervorgehoben, daß sie in keiner Weise auch nur unanständig bei der Sache sich benommen habe, sowie daß sie auch bisher in gutem Rufe gestanden.

Die Geschworenen beriethen lange und kehrten mit folgendem Verdicte zurück:

„Der Ehemann Leuthold sei schuldig der Theilnahme des Betrugs gegen Weidmann, jedoch nur zu einem Betrage von 100 bis zu 800 Fr.

„Dir Ehefrau Leuthold sei schuldig des Betrugs gegen Knecht und gegen den Dr. A. (Der anderen Betrügereien hatte sie sich selbst schuldig bekannt, die Geschworenen hatten daher kein Verdict darüber.)

„Anna Messerschmidt sei schuldig der Theilnahme an dem Betruge gegen den Dr. A.“

Die drei anderen Angeklagten, die Eheleute Kambli und die Wittwe Suter, wurden nichtschuldig erklärt. In dem Saale gab sich vielfache Ueberraschung kund. In Betreff des Dr. A.’schen Falles hatte man überhaupt kein Schuldig erwartet, am wenigsten gegen die Anna Messerschmidt, unzweifelhaft die auch moralisch am wenigsten Compromittirte auf der Anklagebank, weit weniger, als die drei nicht schuldig Befundenen. Und gerade sie hatten die Geschworenen ausgesucht! sagte man.

Staatsanwalt und Vertheidiger plaidirten noch über das Strafmaß. Der Staatsanwalt beantragte gegen die Frau Leuthold zwölf Jahre Zuchthausstrafe. Das Weib hatte bis dahin ihre unerschütterliche äußere Ruhe bewahrt. Die Aussicht auf eine so schwere und lange Strafe versetzte sie in große Aufregung; sie konnte lautem und heftigem Weinen und Schluchzen nicht gebieten. Ihr Mann blieb nach wie vor freundlich und stumpf.

Psychologisch interessant war das Benehmen der Anna Messerschmidt. Sie hatte während der ganzen zweitägigen Verhandlung sich sehr ernst, ehrbar, bescheiden und äußerlich ruhig benommen. Nur als ihr Vertheidiger in seiner Rede hervorhob, daß sie die Unverdorbenste und am meisten zu Berücksichtigende in der Gesellschaft auf der Anklagebank sei, mußte sie lange und bitterlich weinen. Die Verkündigung des Wahrspruchs der Geschworenen hörte sie dann wieder äußerlich ruhig an; als sie darauf aber das Weinen der Frau Leuthold hörte, brachen auch ihre Thränen wieder hervor, und sie wurde erst wieder ruhig, als der Präsident des Gerichts ihr Strafurtheil verkündete. Sie war zu vier Wochen einfachem Gefängniß verurtheilt, worauf jedoch drei Wochen unverschuldeter Untersuchungsarrest angerechnet wurden, so daß sie nur noch acht Tage zu verbüßen hatte. Eine so geringe Strafe hatte sie wohl nicht erwartet. Die helle Freude stieg ihr in das Gesicht.

Der Ehemann Leuthold wurde zu achtzehn Monaten Gefängniß verurtheilt; er hörte es mit seinem vollen Gleichmuth an. Die Frau Leuthold erhielt eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren. Sie wurde abgeführt, indem sie laut heulte. Mitleid begleitete sie nicht aus dem Saale.

Das Bedürfniß anderer Richter über die verbrecherische Schuld, als der von der Regierung angestellten und abhängigen ständigen Richter, hat sich vielfältig, auch in deutschen Ländern, gezeigt. Wo gar diese Richter unter dem Damoklesschwerte moderner Disciplinargesetze stehen, da ist das Bedürfniß in der That ein unabweisbares, wenn nicht das Recht und alles Vertrauen zu der Rechtspflege vernichtet werden sollen. Ich kenne aber kein bedenklicheres Surrogat für solche ständige Richter, als das moderne französisch-deutsche Geschworeneninstitut.

In der Schweiz, namentlich in Zürich, ist dieses Institut mehr der englischen Jury nachgebildet. Ich habe es hier dennoch immer mindestens für Luxus gehalten, da hier die Richter sämmtlich, vom untersten bis zum obersten, von und aus dem Volke, von dem gesammten Volke und aus allen Classen des Volkes, und nur auf wenige Jahre gewählt werden. Der Proceß Leuthold hat in meiner Ansicht mich – nicht irre gemacht.

Aber eins hätte ich beinahe vergessen. Der Mitangeklagte Kambli, der, wie bemerkt, schon früher bestraft worden, war damals auch auf mehrere Jahre zur Strafe der „Eingrenzung“ verurtheilt, einer Art von Stellung unter polizeiliche Aufsicht, so daß er ohne polizeiliche Erlaubniß die Grenzen seiner Kirchgemeinde nicht überschreiten durfte. Diese Eingrenzung bestand noch, als er im October v. J. Nachricht erhielt, daß es mit der Leuthold nicht ganz richtig stehe. Er hatte damals der Leuthold Geld geliehen; sie befand sich gerade in Bern, und um sein Geld zu retten, reiste er schleunigst nach Bern, ohne vorher jene polizeiliche Erlaubniß einzuholen. Hierfür wurde er der „Verletzung der Eingrenzung“ schuldig erklärt und zu zehn Tagen Gefängniß und 50 Fr. Buße verurtheilt.




Reisende.
Von Fr. Gerstäcker.
Mit Illustration von L. Loeffler.

Es gibt auf der Welt zwei Menschenclassen, die sich wesentlich von einander unterscheiden. Die Einen, besonders reich mit Sitzfleisch begabt, kleben an der Scholle, werden groß und alt dabei und sterben endlich, ohne von Gottes Erdboden mehr gesehen zu haben, als was sie eben nicht gut vermeiden konnten –: ihre unmittelbare Umgebung. Wie es draußen aussieht, glauben sie Anderen auf’s Wort; daß der Himmel sich auch noch über andere Länder, als die spannt, die ihren festen Horizont bilden, haben sie aus Büchern gelernt und sind mit diesem Bewußtsein zufrieden. In dem gewöhnlichen Kreislauf des Lebens arbeiten sie ihren steten Gang, und wenn man sie einmal in ihr letztes ruhiges Kämmerchen legt, können sie von den gehabten Strapatzen ordentlich ausruhen.

Und sind sie glücklich dabei? – warum nicht? Sie bilden sich um sich selbst ihre kleine, abgeschlossene Welt, mit Sorgen und Mühen genug für einen ganzen Erdtheil, wie mit Freuden hinlänglich für ihre Bedürfnisse, und begnügen sich damit, ein Halm in dem großen Aehrenfelde zu sein, das unser Schöpfer auf die Erde gesäet hat. Mit den Nachbar-Aehren können sie sich ja immer unterhalten, und am letzten Tage werden wir doch alle mitsammen ausgedroschen.

Die andere Gattung hat, mehr oder weniger, kein Sitzfleisch. Wie der Wandervogel durchstreift sie die Welt, bald in größeren, bald in kleineren Zügen, nach allen Richtungen; sie erkennt keine Grenzen an, hat deshalb aber auch großentheils keine ordentliche Heimath: sie ist nirgends Stammgast, und fliegt (an einen dünnen Faden gebunden, den die Polizei in Händen hält und Paß nennt) nach allen Seiten hin gar fröhlich aus.

Und ist die glücklich? – warum nicht? Jedenfalls wollen wir uns dieselbe einmal näher betrachten.

Diese letzte Gattung wird gewöhnlich – um sie von der anderen, die gar keinen Namen hat, zu unterscheiden – unter die etwas allgemeine Rubrik: Reisende gebracht. Das Wort „Reisende“ faßt aber viel zu verschiedene Begriffe in sich, um so ohne Weiteres verstanden zu werden. Es möchte deshalb nöthig sein, diese diversen Reisenden schärfer zu zergliedern.

Eigentlich versteht man unter dem Wort: Ein Reisender, wenn nicht das ganz bestimmte Adjektiv „armer“ dazu gesetzt wird, nur Länder- und Waaren-Reisende. Die Uebrigen sind, solange sie sich unterwegs befinden, Passagiere, sobald sie in einem Gasthaus einkehren, Fremde. Nur Länder- und Waaren-

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_267.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2021)