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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

bildet. Es sind dies die Badereisenden, insofern der angebliche Zweck ihrer Reise oft weiter Nichts als nur ein Vorwand ist – eine Thatsache, die sich besonders bei der schönen Hälfte dieser Art von Reisenden nur zu häufig ergeben soll.

Der Ursprung wirklichen Bahnreisenden, d. h. solcher, die in der That genöthigt sind, zum Besten ihres maltraitirten Körpers eine Heilquelle aufzusuchen, verliert sich in das graue Alterthum, und die Meisten von ihnen verlangen, daß ein paar Gläser Wasser mit einem Dutzend warmer Bäder das wieder in drei oder vier Wochen aus dem Körper jagen soll, worauf elf Monate im Jahre mit allem nur erdenklichen Eifer gesündigt wurde. Trotz aller vergebens erhofften Erfolge aber bleiben die Versuche doch Jahr nach Jahr dieselben, und die Einbildungskraft muß dann ersetzen, was die Natur nicht im Stande war zu erreichen. Wenige Menschen haben soviel Phantasie, wie Badereisende.

(Schluß folgt.)


Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Von Claire von Glümer.
IV.

Mit der Scheidung trat Wilhelmine Schreiber-Devrient in die Sturm- und Drangperiode ihres Lebens ein. Während sich ihr ganzes Wesen in Kampf und Schmerz rasch entwickelte, wurde sie auch immer selbstbewußter in ihrem künstlerischen Schaffen; mehr und mehr offenbarte sich in ihr jene Gluth und Kraft, durch welche sie auf der Bühne wie im Leben so unwiderstehlich hinriß.

Um die Kunst war und blieb es ihr bis an’s Ende heiliger Ernst, und ihrem schöpferischen Genius kam der beharrlichste Fleiß zu Hülfe. Mit Entrüstung hörte sie die vielverbreitete Ansicht aussprechen, daß Talent und Genie nicht zu arbeiten brauchen.

„Es ist ja doch nur ein ewiges Suchen in der Kunst,“ sagte sie oft, „und der Künstler ist verloren, ist todt für die Kunst, sobald er sich dem Wahne hingibt, am Ziel zu sein. Bequem ist es freilich, mit dem Costüm die ganze Aufgabe abzustreifen und ruhen zu lassen, bis man sie nach Anordnung des Repertoirs wieder aufnehmen muß. Ich habe das nie gekonnt. Wie oft, wenn mir das Publicum seinen Beifall zujauchzte und mich mit Blumen überschüttete, bin ich beschämt in mein Kämmerlein gegangen und habe mich gefragt: Wilhelmine, was hast Du nun wieder gemacht? und dann hat es mir keine Ruhe gelassen; ich habe tagelang, nächtelang darüber nachgedacht, bis ich das Bessere gefunden hatte.“

Sehr empfindlich war die Künstlerin gegen die Verstöße und Unachtsamkeiten, durch welche der Schauspieler so oft die Illusionen des Publicums zerstört. Es empörte sie, wenn Rebecca den Schmuck, durch den sie ihre Rettung zu erkaufen versucht und von dem sie noch eben gesagt hat: „er ist von hohem Werth“, zu Boden fallen läßt, sobald sie seiner nicht mehr bedarf; oder wenn Agathe das Taschentuch, das sie als „Flagge der Liebe“ dem Geliebten entgegen wehen ließ, in die Coulisse wirft, wenn die Arie zu Ende ist. „Es fehlt diesen Leuten an Respect vor ihrer Kunst,“ sagte sie; „sonst könnten sie sich nicht in dieser Weise gegen sie versündigen.“

Bis in die geringsten Einzelheiten suchte sie sich ihre Aufgabe klar zu machen. Sie studirte nicht allein am Charakter der Musik, es genügte ihr nicht, die Handlung des Stückes, die Gestalten der Mitspielenden und vor allem das Wesen, das sie selber darstellen sollte, bis in die leiseste Nüance jeder Stimmung zu kennen, auch das äußere Beiwerk war ihr wichtig. Sie lernte fechten, um den Romeo geben zu können; sie forschte nach den Sitten des Landes und der Zeit, worin sich die Handlung jedes Stückes bewegte, nach den geselligen Formen der verschiedenen Stände, nach den häuslichen Gebräuchen, und ihr Costüm war immer aufs Genaueste dem Geist ihrer Rolle angepaßt.

Dabei wurde sie von dem richtigsten Instinct, dem feinsten Geschmack geleitet. Eine reich gekleidete, mit Schmuck überladene Agathe, eine Emmeline in Florschürze und seidenem Mieder, eine Norma oder Armida mit geschnürter Taille war ihr ein Gräuel. Gegen die Ristori, die sie nie gesehen hatte, war sie eingenommen, weil diese Künstlerin auf einem ihrer Bilder den antiken Gürtel mit der Spitze nach unten trägt. Es war Wilhelmine unbegreiflich, wie eine „gescheidte Frau“ solchen Verstoß begehen könnte. Sie wußte freilich ebenso genau um den Hochzeitsschmuck einer altdeutschen Bürgerstochter Bescheid, wie um das Priestergewand einer Vestalin und um die Tracht des Schweizermädchens, wie um den malerischen Anzug einer Jüdin aus dem 12. Jahrhundert.

Wenn sie die Agathe gab, trug sie im ersten Act ein schmuckloses, häusliches Kleid, wie sich’s für eine Försterstochter paßt. Um die Stirn hatte sie als Vorband ein weißes Tuch gelegt, um den Zuschauer an die Verwundung durch das herabstürzende Bild zu erinnern, von der wir heutzutage, bei der undeutlichen Aussprache der meisten Sängerinnen, kaum etwas erfahren. Erst zu Ende des Duetts mit Aennchen nahm sie das Tuch wieder ab. Im zweiten Act ließ sie das blonde Haar in langen Locken auf die Schultern fallen – ein Schmuck, der in alten Zeiten Vorrecht der Bräute war. – Ihr Kleid war von schlichtem weißen Stoff und altväterischem Schnitt, an die Zeit des 30jährigen Kriegs erinnernd, und die grüne Schärpe, die sie leicht um die Taille geschlungen hatte, bezeichnete ebenso graziös als zeitgemäß die deutsche Jägerbraut.

Als Emmeline erschien sie in einem Rock von grobem Wollenzeug, in einfachem rothen Mieder mit Hemdsärmeln von Leinwand. Dazu trug sie eine weite Schürze, bunte Strümpfe, die vom Knie zum Knöchel reichten, sodaß sie barfuß in ihren Lederschuhen stand, und das blonde Haar fiel in langen Zöpfen über den Rücken hinunter. Aber auch in dieser schmucklosen Tracht war sie von hinreißender Schönheit. Wenn sie im dritten Act am Fenster der Hütte erschien, die Hände gefaltet, die Augen in träumerischer Freude zum Himmel erhoben, sprach sich die Bewunderung des Publicums oft so stürmisch aus, daß sie eine ganze Weile wie im stummen Gebet dastehen mußte, ehe sie das Terzett:

Ach, wie herrlich ist der Morgen;
es verschwinden alle Sorgen!

beginnen konnte.

Ueber den Romeo sagt sie in einem Brief an Emmy La Grua, eine junge Sängerin, die sich, wie viele Andere, Rath und Belehrung suchend an sie gewendet hatte: „Die größte Schwierigkeit für die Darstellung dieser Rolle liegt darin, daß sie für eine Frau geschrieben wurde; die Künstlerin hat daher die ungeheuere Aufgabe, ihr Geschlecht vergessen zu machen und in Haltung, Bewegung, Stellung einen feurigen, von der ersten Liebesgluth durchdrungenen Jüngling darzustellen. Nichts darf ihr Geschlecht verrathen, soll die ganze Situation nicht lächerlich werden. Sie muß gehen, stehen, hinknieen wie ein Mann; sie muß den Degen ziehen und sich zum Kampfe anstellen wie ein geübter Fechter, und vor allen Dingen muß alles Weibische aus ihrem Costüm verbannt sein. Keine zierlichen Locken, kein eingezwängter Fuß, keine „schöne Taille“! Das Hutaufsetzen und Abnehmen, das Handschuh-Aus- und Anziehen ist nicht minder wichtig.“

Wie Wilhelmine Schröder-Devrient diese Aufgabe erfüllte, wird Jedem unvergeßlich sein, der sie darin bewundern durfte. Vom ersten Auftritt an, wo Romeo mit festem Schritt und trotzig erhobenem Kopfe an der Spitze seiner Krieger erscheint, um den Capuletti Frieden zu bieten, bis zu dem letzten Aufschrei im Todeskampfe, dem letzten Zusammensinken an Giulietta’s Sarge war sie in jedem Blick, in jedem Zucken der Lippe, in jeder Handbewegung der stolze Patriciersohn, der liebeglühende junge Held, den sie – Shakespeare nachdichtend – in die Bellinische Oper übertrug.

In dieser dichterischen Kraft, die ihr in einem Maße verliehen war, wie keiner anderen Bühnenkünstlerin, lag das Geheimniß ihrer Größe. Im Fidelio, in Donna Anna, in Gluck’s und Weber’s Opern, in allen Rollen, in die sie sich mit Bewunderung und Liebe versenkte, befähigte sie diese Kraft, sich jeder Intention des Meisters anzuschmiegen und Alles, was er gedacht, gefühlt, vielleicht nur geahnt hatte, so lebendig zu gestalten, daß die Darstellung das vollendetste Weiterschaffen im Sinn und Geist des Dichters, des Componisten war. Aber wurde ihr eine jener gehaltlosen Aufgaben zu Theil, wie sie in hundert alten und neuen Opern zu finden sind, so waren Dichtung und Handlung nur noch der Rahmen, in dem sich ihre Dichtung bewegte, und die Musik war nur das Idiom, in welchem sich ihre Freuden und Schmerzen,

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