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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

sicheres Ziel jedes Jahr der Continent ist. Hier treten nun diese Herren, die daheim einen kleinen Specereiladen oder eine Schneiderwerkstätte besitzen, mit mühsam ersparten hundert Pfund Sterling als Lords auf und werden von Wirthen, Lohndienern und anderen unschuldigen Continentsbewohnern angestaunt und verehrt.

Den Engländern selber muß man darin allerdings Manches nachsehen. Die angeborene Unverschämtheit der ungebildeten Classe gegen Alles, was deutsch ist, gibt ihnen gerade das nöthige, anscheinend vornehme Wesen, und wie ein Berliner Levy oder Meier, der mit einer Kiste Kattun nach Leipzig zur Messe kommt, die Stadt für die Zeit seines dortigen Aufenthalts als ihm gehörig betrachtet, so sieht der jener Classe von Engländern Angehörende, wenn er den Continent betritt, schon seine Existenz als eine dem festen Land erwiesene Wohlthat an. Opfert er ihm doch so und soviel Pfund Sterling, die er auf viel langweiligere und schnellere Art hatte in Old England selber loswerden können!

Diese Gattung von Albionskindern wird nur mit einem rotheingebundenen Murray (ihrem Koran), dann mit Plaid, Regenmantel und Mütze von leichtem carrirten Stoff getroffen. Eine solche Mütze ist nämlich zu einer Reise nach dem Continent unentbehrlich, und so wenig Mr. Jones daran denken würde, sich mit einer solchen Bedeckung in the hearing of St. Paul’s sehen zu lassen, ebenso wenig möchte er ohne eine solche den Rhein befahren oder sich in einen deutschen Waggon setzen.

Mr. Jones.

Von London ab fahren alle diese Mr. Smith’s und Jones dritter Classe, selbst noch von Ostende oder Calais bis Cöln – von da an aber beginnt für sie der Continent, und solange ihr Geld reicht, sind es lauter Lords. Je unverschämter sie sich dabei betragen, desto höflicher und achtungsvoller werden sie von den Deutschen behandelt, und würdevoll genießen sie, als eine der Continental-Früchte, solche ungewohnte Huldigungen. Lieber Gott, sie dauern ja überdies nicht lange und daheim sinken sie doch wieder nur zu bald in ihr altes Nichts zurück!

Der wirklich vornehme Engländer ist indeß bald von diesem Auswuchs zu unterscheiden. Wie jeder wirklich vornehme und gebildete Mann, zeigt er sich überall freundlich und anspruchslos, läßt sich – als auf Reisen, gern eine kleine Unbequemlichkeit gefallen, und schmiert seinen Namen nicht auf jede Statue, an jedes merkwürdige Gebäude an, das er erreicht.

Das Wort „Vergnügungs-Reisender“ ist übrigens ein sehr unbestimmter und oft nur imaginärer Begriff denn wie selten finden solche Reisenden wirkliches Vergnügen unterwegs! Gewöhnlich sind sie freilich selber daran schuld, denn mit wenigen Ausnahmen verbittern sie sich das Reisen so viel als irgend möglich dadurch, daß sie an der Straße alle die Bequemlichkeiten zu finden erwarten, ja verlangen, die sie daheim verlassen haben. Eine Unmasse Gepäck erschwert dabei jede ihrer Bewegungen und vertheuert ganz unnützer Weise ihr Fortkommen. Ebenso wenig mögen sie sich an die Speisen und Getränke des fremden Landes gewöhnen und sind außer sich, wenn sie das dem Boden Ungewohnte schlechter als zu Hause bekommen und theurer bezahlen müssen.

Ein Franzose z. B. der nach London kommt, fordert ohne Weiteres Suppe und Bordeaux so gut wie daheim; der Engländer in Paris dagegen Beefsteak und Ale. Beide müssen dafür doppelte Preise bezahlen und können das Bestellte kaum genießen, und diesen Fehler begehen die meisten „Vergnügungs-Reisenden“, von welchem Lande sie auch immer kommen.

So, mit harten Betten und theueren Preisen, zerbrochenen Rädern, versäumten Zügen, mit schlechtem Wetter und vergessenen Reisesäcken, verlorenen Schlüsseln, heillosen Paßscherereien und zahllosen anderen Reisetrübsalen, kämpfen sie sich durch die Zeit, die sie zu ihrer „Vergnügungs-Reise“ bestimmt hatten, und sind seelenglücklich, wenn sie dieselbe endlich überstanden, die Heimath wieder erreicht haben.

Aber eine Art von Vergnügungs-Reisenden gibt es trotzdem, die wirklich nur Vergnügen auf ihrer Reise haben, und denen jedes kleine Ungemach, jedes Hinderniß, jede gestörte oder vereitelte Bequemlichkeit nur den Reiz ihrer Fahrt erhöht, und sie noch lange nachher mit Jubel selbst an der Erinnerung zehren läßt.

16 Jahre alt.

O sel’ge Schulzeit! sel’ge Zeit der Ferien, wo das junge Volk, den Tornister auf dem Rücken, den Stock in der Hand, hinausstreift über Berg und Thal, und mit zwei Thaler zwanzig Groschen Europa zu durchwandern meint. In deren Herzen liegt wirklich Glück und Freude, und wie Jean Paul von seinem in die Ferien ziehenden kleinen Wuz sagt, „haben sie Mitleiden mit allen Menschen, die daheim bleiben müssen.“ Das sind denn auch die wahren und leider auch die einzigen Vergnügungs-Reisenden, die sich die kurze Lust nicht unnöthig verbittern, sondern sie ganz und voll genießen.

Reisen und Reisenein Name begreift all’ die verschiedenen Arten in sich, eine Bedeutung hat das Wort in dem gleichmäßigen Entgegenstreben eines Ziels, und welcher Unterschied trennt die verschiedenen Classen, welche Kluft des Einen Seligkeit von des Anderen Jammer!

Reisen und Reisen – hier haben wir den lebensfrischen, frohen sechszehnjährigen Bursch, der mit ein paar Thalern – mehr als er je in seinem Leben zusammen besessen – jubelnd in das Leben hinauszieht, seine längst ersehnte Ferien-Reise anzutreten; und mit ihm auf derselben Bank, eine kurze Strecke denselben Weg verfolgend, fährt der Auswanderer seine müde, dornenvolle Bahn.

Die Maschine rasselt, aber mit jedem klappernden Schlag, den sie gibt, zuckt sie dem Einen in Freude und Jubel durch die Adern, denn näher und näher trägt sie ihn dem duftigen, schattigen Wald – stößt sie dem Anderen einen Dorn in’s Herz, denn weiter und weiter führt sie ihn fort von den Lippen der Lieben, von den Gräbern der Seinen.

Reisen und Reisen! und malen wir uns das Bild weiter aus, das uns ein einziges solches Coupé dritter Classe in einem Bahnzug bietet. – Nur zehn Personen enthält der kleine, für sich abgeschlossene Raum, und wie gemischt die einzelnen Charaktere: der junge Bursch, der in die Ferien zieht, schaut nur voraus, den fernen blauen Bergen, seinem Ziel, entgegen; der Auswanderer nur zurück, nach jeder Bergkuppe, jedem Kirchthurm, jedem Baum. An Jedes knüpft sich irgend eine Erinnerung: es sind ihm lauter liebe Freunde, die er läßt. Jugend und Alter! hat doch das eine nur eine Zukunft, das andere nur eine Vergangenheit.

Jugend und Alter! – Dicht neben dem jungen, lebensfrohen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 277. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_277.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)