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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

er den Kopf in die Casematte steckt und ich ihm hier „Guten Morgen, Camerad!“ sage. Ich werde ihn zum Chef des Minircorps ernennen, sobald ich Gouverneur von Magdeburg bin. Aber wo bleibt heute mein dienstthuender Adjutant?“

Er versteckte jetzt sorgfältig die Papierfragmente, schob die Matratze an ihren Platz und trat an eines der kleinen vergitterten Fenster oder Luftlöcher, die durch die dicken Mauern gebrochen waren. Nach einer Weile sah er die Gestalt einer auf- und abwandelnden Schildwache daran vorüberschreiten und rief sie an.

„Heda, Wache, welche Stunde ist’s?“

„Die Uhr wird sogleich zehn schlagen.“

„Und das Wetter wird den Traiteur auf den Kopf schlagen, daß er mein Frühstück nicht sendet. Meint der Schuft, ich habe hier so viel Zeitvertreib, daß ich darüber das Essen vergesse?“

„Dort kommt die Esther,“ sagte die Schildwache und schritt weiter.

In der That klirrte nach einer Weile das Schloß der Casemattenthüre; sie wurde geöffnet, und ein Unterofficier wurde auf der Schwelle sichtbar. Hinter ihm trat ein junges, schlankes, schwarzlockiges und die jüdische Abstammung verrathendes Mädchen in die Casematte, und während der Unterofficier wieder verschwand, weil ihm die frische Luft und der Sonnenschein draußen angenehmer sein mochte, als die durchaus nicht reine Atmosphäre, welche in der Casematte herrschte, brachte das Mädchen einen kleinen Korb herbei, den sie vor dem gefangenen Officier niedersetzte.

Dieser umschlang mit seinem rechten Arm ihre Taille und hob mit der Linken ihr Kinn in die Höhe, um sie auf die schöne schmale Stirn zu küssen. Denn Esther Heymann, das Judenmädchen, welches für die leiblichen Bedürfnisse des Gefangenen Sorge trug, hatte in der That eine Stirn, welche ein eben nicht mit wichtigeren Dingen beschäftigter Officier wohl in Versuchung kommen konnte, zu küssen, und das um so mehr, als sie es sich, dem Anschein nach mit großer Hingebung, gefallen ließ. Er küßte dann ihren vollen rosigen Mund und blickte ihr in die schönen, dunklen, feuchtglänzenden Augen.

„Hat je ein Festungsgouverneur einen schöneren Adjutanten gehabt?“ flüsterte der Officier.

Sie entwand sich ihm jetzt, öffnete den Korb und ging einem kleinen Wandvorsprung zu, der ein Mittelding zwischen Tisch und Sitz war und zu beidem dienen konnte. Darüber breitete sie eine Serviette und stellte den Inhalt ihres Korbes darauf, Brod, Butter, kaltes Fleisch und eine Flasche, die eine kleine Ration gebrannten Wassers enthielt. Das Brod und die Butter waren durchschnitten, zum Beweise, daß sie durch die controlirenden Hände irgend einer Festungsbehörde gegangen. Und es wäre deshalb sehr thöricht gewesen, etwas in ihnen verbergen zu wollen; die schöne Esther hatte auch ganz sicherlich nicht daran gedacht, und es war gewiß eine ihrem Verständniß sich völlig entziehende und ihr nicht weiter auffallende Bewegung, als der Officier hastig nach dem Stück Papier griff, in welches die Butter geschlagen war und das jetzt zwischen dieser und dem kleinen Teller als ein höchst nutzloses Ding lag, das der Gefangene auch wohl nur deshalb entfernen wollte.

Nichtsdestoweniger betrachtete er, nachdem er es sauber abgewischt, die nach unten gekehrte Seite, und die Linien, Ecken und Winkel, die hier darauf gezeichnet waren, mußten ihm so interessant vorkommen, daß ein Ausdruck offenbarer Befriedigung über seine Züge flog. „Ich danke Dir, Herzens-Esther,“ sagte er. „Jetzt hab’ ich Alles zusammen, was ich bedarf. Die noch übrigen Stücke kannst Du verbrennen – ich habe genug!“ Dabei steckte er das kleine Blatt in seine Brusttasche. „Nun zu den Meldungen,“ fuhr er fort.

„Die in der Casematte 1 in der Citadelle haben gewählt,“ flüsterte Esther.

„Und wen?“

„Einen Major Zichy.“

„Kenn’ ihn nicht – aber das schadet nichts.“

„Er läßt Ihnen sagen, daß er Ihre Befehle annehmen will. Nur kann er nicht früher, als bis er sicher ist, daß Sie ihm von außen zu Hülfe marschiren, denn die Citadelle …“

„Nun, wenn er mich für so dumm hält, nicht selber zu wissen, daß die Citadelle am stärksten besetzt ist, so thut er sehr unklug, sich meinen Befehlen zu unterwerfen, der Herr Oberstwachtmeister Zichy! Und weiter?“

„Die unter dem Fürstenwall sind in voller Thätigkeit, um die Mauer, welche die beiden ersten Casematten darin trennt, zu durchbrechen, daß sie zusammenkommen können. Sie denken diese Nacht fertig zu werden.“

„Bravo. Sie werden ein hübschen Bataillon bilden, wenigstens zwölfhundert Mann. Ja der vorderen Casematte commandirt ein Oberst Stengel, und in der zweiten Rittmeister Stülpnagel. Wenn es zum Ausrücken kommt, soll der Rittmeister das Commando über den ganzen Haufen übernehmen, ich scheer’ mich den Henker um Rang und Anciennetät – verstehst Du, Esther?“

Esther nickte mit dem Kopfe. Der Gefangene hatte sich unterdeß auf die äußerste Ecke den gemauerten Tischen gesetzt und begann sein Frühstück zu verzehren. „Wenn Du doch,“ sagte er jetzt lächelnd, „eben so gut mit Deinen schönen Feueraugen ein Paar alte Häuser in Flammen setzen könntest, wie Du das Herz eines armen Gefangenen in Flammen gesetzt hast – es wäre mir außerordentlich angenehm, wenn solch eine kleine Feuerbrunst in den nächsten Tagen da unten in der Stadt ausbräche.“

„Das kann ich freilich nicht für Sie thun, Herr von Frohn,“ antwortete sie ernst den Kopf schüttelnd.

„Glaubst Du denn, Närrchen, ich hätte Dir’s im Ernst zugemuthet?“ erwiderte er, mit einem Blick, in welchem etwas wie Rührung lag, zu ihr aufschauend. „Wahrhaftig, Du hast schon genug für uns gethan – ohne Dich wäre ich hülflos wie ein Kind – und wie ich Dir’s danken soll …“

„Dank verlange ich ja nicht, Herr von Frohn! Wenn nur mein armer Vater dabei frei wird … ich thue ja Alles um seinetwillen!“

„Um seinetwillen … und nicht auch ein klein wenig mir zu Liebe, Esther?“

Esther vermied, dem Blicke zu begegnen, den er bei diesen Worten auf sie heftete, und fuhr fort: „Ich weiß, daß ich mein Leben dabei auf’n Spiel setze, aber meines Vaters Leben ist nicht blos auf’s Spiel gesetzt, es wäre sicher verloren, wenn er nicht die Hoffnung hätte, bald befreit zu werden. Sie haben ihm neue Ketten angelegt, weil sie aus seinen zerrissenen Laken schlossen, er wolle einen Fluchtversuch machen; und doch hatte er nur aus Desperation den Entschluß gefaßt, sich zu erhängen.“ Esther brach bei diesen Worten in bittere Thränen aus.

„Tröste Dich, Esther,“ sagte Frohn, indem er die Hand auf ihre Schulter legte – „ich gebe Dir mein Wort, als das eines ehrlichen Mannes, daß er in wenigen Tagen frei wird.“

„Sagen Sie mir doch,“ fuhr Esther fort, „warum ist der König so grausam … gegen einen Unschuldigen?“

„Der König? Nun, er wird wohl über die Unschuld Deines Vaters andere Ansichten in sich aufgenommen haben, als die Deinigen sind, Esther. Tyrann ist er freilich. Aber Du mußt denken, daß es unmöglich ist, wenn man über viele Millionen Menschen herrscht, lange mit dem Einzelnen viel Federlesens zu machen. Er glaubt, daß Dein Vater ihn bei Lieferungen für die Armee betrogen hat. Nun ist so viel gewiß, daß es Juden wie Christen gegeben hat, die bei solchen Geschäften ihren König und ihr Vaterland betrogen … oder meinst Du, Esther, so etwas sei ganz unerhört und komme niemals vor?“

„Es mag leider oft genug vorkommen,“ erwiderte Esther – „wer weiß nicht, daß es viel schlechte Menschen gibt? Aber mein Vater …“

„Dein Vater ist ein ehrlicher Mann, ich glaube Dir’s, Esther, aber das Unglück hat nun einmal gewollt, daß er beim König in Verdacht gekommen ist, und der König hat ihn auf zehn Jahre nach Magdeburg in die Eisen geschickt, ohne so vernünftig zu sein, vorher die liebe Esther zu fragen, ob sie dies für gerecht und billig halte. Das war nun allerdings unverantwortlich von dem König gehandelt. Aber denke Dir, daß durch die Nachricht, wie der König mit dem ehrlichen Heymann blos auf einen Verdacht hin verfahren sei, eine Menge anderer Lieferanten vielleicht einen tödtlichen Schrecken bekommen haben; daß sie, die vielleicht im Begriff standen, große Unterschleife zu machen, nun nicht mehr gewagt haben, ihre bösen Absichten auszuführen; daß dadurch vielleicht 100,000 Thaler dem Könige gerettet sind. Ist das Alles nicht sehr möglich? Und wenn sich Dein Vater nun sagt, daß er dem Staate 100,000 Thaler auf diese Weise durch seine Haft einbringt, also weit mehr, als er auf freien Füßen jemals für sich oder die übrige Menschheit nutzen und einbringen konnte – liegt darin nicht ein großer Trost für ihn?“

„Sie spotten noch!“ sagte Esther, nahe daran, Schluchzen auszubrechen.

„Esther,“ sagte er weich, „wie sollte ich seiner spotten! Nimmst Du mir mein bischen Gefangenen-Humor übel? Armes Kind, Du weißt ja, wie theuer Du mir bist …“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_291.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)