Seite:Die Gartenlaube (1860) 349.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Ertheilung der Erlaubniß, das öffentliche Mitleid durch den Leierkasten ansprechen zu dürfen, veranlaßt haben, als vielmehr schwere, in Friedenszeiten, aber im Dienste erlittene Leibesschäden. Jeder dieser alten Gesellen ist mit einem argen Uebel behaftet, und der Bevorzugteste, der sich an der einträglichsten Stelle, in der ersten Eingangsallee des Thiergartens postirt hat, verfügt sogar nur über einen Arm. Sie haben sich sämmtlich an solchen Punkten aufgestellt, wo der Strom der Spaziergänger an ihnen vorbeiziehen muß, und scheinen mit ihrem Lebensberuf nicht unzufrieden zu sein.

Die lange Beobachtung der Berliner Menschheit hat ihren Blick geschärft, und selbst derjenige, welcher als Blinder oder doch Augenleidender eine grüne Brille mit schwarzen Scheuklappen trägt, erkennt aus ziemlich weiter Entfernung diejenigen Personen, welche wohl bereit sein könnten, ihm einen Groschen zu opfern, und läßt alsbald sein geliebtes Instrument ertönen. Der ältere Officier, der Mann mit einem Ordensbändchen, das behäbig watschelnde Ehepaar, der in philosophische Betrachtungen versunkene Cigarrenraucher, das sich scheu umblickende Liebespärchen: sie alle werden unvermeidlich mit lieblichen, nicht selten etwas falschen Tönen begrüßt. Selbst alle stolzen Cavaliere und Reiter entgehen nicht den Klängen, obgleich die lange Erfahrung gelehrt haben muß, daß ihre Beiträge in die Blechbüchse auf dem Leierkasten die spärlichsten zu sein pflegen. Die treuesten Freunde der Invaliden sind wohl die kleinen Kinder, die im Sommer von ihren Wärterinnen in den Thiergarten geführt werden und mit Entzücken den köstlichen Melodien der Leierkästen lauschen; zweifelhafter scheint indessen, ob die regelmäßige Anwesenheit dieser Zuhörer sich rentirt. Alle Leierkästen sind von patriotischer Constitution und spielen vorzüglich jene Lieder, welche von den musikalischen Preußen bei festlich musikalischen Gelegenheiten von Männerquartetten oder Chören gesungen werden.

Die Existenz dieser militairischen Musiker ist übrigens eine nomadische. In den frühen Vormittagsstunden finden sie sich vor Anfang der täglichen Promenade auf ihren Plätzen mit ihren Frauen oder Wärterinnen ein, nehmen auf einem Schemel Platz und erheben sich nur, wenn der Anspielung würdige Personen erscheinen. Höhere Hitze- oder Kältegrade können sie, ungeachtet ihres vorgerückten Alters, sehr wohl ertragen. Die Mittagsmahlzeit und das Vesperbrod, in den Wintertagen auch hinreichende Quantitäten von heißen Getränken, werden ihnen von jungen Emissären aus der Stadt zugeführt. Ihre Tracht ist ein alter abgetragener Waffenrock, graue Beinkleider und eine lebensüberdrüssige Militairmütze. So stehen sie unter hohen schattigen Bäumen und drehen als lebendige Illustrationen zum Capitel des modernen Heerwesens die Kurbeln ihrer Leierkästen, während die jungen Vögel aus ihren Nestern verwundert auf die verwitterten militairischen Gestalten herabblicken.

Die genannten öffentlichen Charaktere üben, wohlgemerkt, ihre Wirksamkeit in Uebereinstimmung mit der Polizei aus. Sie sind so gut geduldet, wie die Bettelmönche in katholischen Ländern. Wir wenden uns aber zu jenen Männern und Jünglingen, welche nicht durch Leibesschäden, sondern durch einen poetischen Hang des Geistes von dem trockenen Ernst der Arbeit abgehalten werden und sich, freilich nicht ganz ohne Widerstreben des Ortsvorstandes, der freien Muße widmen. Eine Lieblingsbeschäftigung dieser Charaktere besteht in dem Oeffnen der Klitschen vor Kirchthüren und Theatern. Wenn Ihr an einem Regenabende in eines der kleineren Theater oder an einem Sonntagnachmittage in die Kirche fahrt, um bei dem siebenten Kinde irgend eines stets um zahlende Pathen verlegenen armen Clienten Gevatter zu stehen, wird an den Stufen des Gebäudes plötzlich die Thür des Wagens aufgerissen. Ein kräftiges Subject greift hierauf mit meistens nicht ganz reinlichen Händen, ohne Euch zu fragen, hinein, sucht Euch oder Eure Ehehälfte festzupacken und weniger hinauszuheben, als hinauszuziehen. Auf die Toilette nimmt das Subject weiter keine Rücksicht, ebenso wenig auf den Leibeszustand des Fahrgastes; es behandelt ihn als schnödes Frachtstück. Das ganze Verfahren hat einige Ähnlichkeit mit dem Entern eines Kauffahrteischiffes durch die Ungläubigen, und es frommt selbst nicht, wenn man sich dem Eindringling lebhaft widersetzt und seine Hände zurückstößt. Kaum hat man dann festen Boden unter den Füßen, so schlägt der Wagenpirat schleunig die Thür zu, eilt Euch nach und fordert ein Trinkgeld für seine Dienstleistung. Ihn kümmert nicht die Zugluft, die gewöhnlich in den Fluren der Theater und Kirchen weht, nicht Eure leichtere Kleidung; er will eine Entschädigung haben, und wenn Ihr ihn nicht befriedigt, packt er Euch wohl am Aermel des Rockes und wird deutlicher. Dieselbe Scene wiederholt sich am Schlusse des Gottesdienstes oder Schauspieles. Der fliegende Portier verfügt über den Wagen, er hat die Thür besetzt, zwar nicht über seine Leiche, aber doch mitten durch seine schmierigen Klauen führt der Weg zu den gepolsterten Sitzen.

Diese gewaltsame Bettelei wird durch die Situationen, in denen man sie regelmäßig verübt, höchst widerwärtig. Nie ist es unangenehmer und bedenklicher, als mitten in einem Gedränge von eiligen Menschen den Geldbeutel zu ziehen und im Halbdunkel für einen ganz Unbekannten ein kleines Geldstück hervorzusuchen. Ein Herr, dem bei einer solchen Gelegenheit vor dem Dom das seidene Taschentuch aus dem Rocke gezogen wurde, läßt sich noch heute nicht ausreden, daß manche Kutschenaufmacher mit den Kirchentaschendieben ein Bündniß geschlossen haben und die dem Diebstahl Geweihten hinzuhalten und zu beschäftigen suchen. Ist man aber aus angeborener Weichherzigkeit freigebig gewesen, so besteigt der Kutschenaufmacher sofort den hinteren Bediententritt des Wagens, begleitet die Gesellschaft nach Hause und wirbt dort um ein zweites Trinkgeld. An Sonntagen kann man diese Gesellen hinter allen Kutschen stehend erblicken, da der gutmüthige und bei solchen Gelegenheiten freigebige Handwerkerstand an diesem Tage gewöhnlich seine Hochzeiten zu feiern pflegt.

Vielleicht noch lästiger sind die kleinen Knaben und Mädchen, die in den Hauptstraßen oder in den Hausfluren starkbesetzter Restaurants den Spaziergängern und Gästen nachstellen. Als es noch einen Freihandel mit Journalen in Berlin gab, vertrieben diese Detaillisten mit großem Eifer die Witzblätter und illustrirten Wochenschriften, machten ein gutes Geschäft und waren dem Publicum als nützliche und für Verbreitung von lustiger Unterhaltung sorgende Mitglieder der menschlichen Gesellschaft ganz angenehm. Wem wäre es nicht oft ergötzlich gewesen, für ein paar Pfennige mehr eine Stunde nach der Ausgabe ein interessantes Blatt zu kaufen, und beim Dessert, oder auch im Freien, auf einer Bank sitzend, in voller Gemüthlichkeit zu lesen? Die neuere Staatslehre von der Umkehr der Wissenschaft hat auch diesem raschen und lustigen Verkehr ein Ende gemacht. Die Freihändler wurden von den Constablern verfolgt, wie die ersten Christen von der römischen Polizei unter der blutigen Kaiserwirthschaft. Man warf die armen Jungen zwar nicht den wilden Thieren vor, aber es war auch nicht hübsch, daß man sie in die Stadtvogtei schickte, ihnen nur an Sonntagen die Kaldaunen von zahmen Thieren vorwarf, und sie bei wiederholtem Schmuggel von Zeitungen bis zu vier Wochen, mit allerlei Hallunken zusammengesperrt, im Loche sitzen ließ. Nach den hartnäckigsten Verfolgungen gelang es, ein Seitenstück zur napoleonischen Continentalsperre zu liefern; aus den fliegenden Buchhändlern wurden nothgedrungen Blumenhändler.

Von den Promenadestunden des Vormittags an treiben sie sich bis gegen Mitternacht, wo sie sich vor den Thüren der eleganten Delicatessenkeller postiren, umher und halten dem Publicum ihre armseligen Körbchen mit einigen durch Sonne, Wind und Staub mißhandelten Blumensträußchen unter die Nase. Es sind ganz kleine, noch der elterlichen Pflege bedürftige Kinder darunter, die oft, nur äußerst dürftig gekleidet, viele Stunden lang in kalten Frühlingsnächten auf den steinernen Stufen sitzen und auf das Klirren der Champagnergläser und den endlichen Aufbruch der Gäste lauschen, um im günstigsten Falle ein karges Almosen zu erhaschen, gewöhnlich aber nur mit harten Worten angelassen und bei Seite geschoben zu werden.

So viele unnöthige „öffentliche Charaktere“ besolden die christlichen Staaten. Sollten sich nicht einige Ersparnisse machen lassen, um diese blutige Satire auf die Jugenderziehung in dem „Staate der Intelligenz“ zu vertilgen?



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_349.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)