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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

unmittelbar vor dem Morde in der Begleitung des Ermordeten befunden hatten. Das Geheimnißvolle in ihrem Benehmen deutete zugleich auf eine Verbindung mit dem Morde hin.

Ein Umstand blieb unerklärlich. Warum hielt die fremde Dame sich noch immer in der Gegend auf, wenn sie zu dem Verbrechen in Beziehung stand? Sie konnte sich die Gefahr nicht verhehlen, in der sie so, trotz ihrer Verborgenheit, schwebte. Jedenfalls mußte sie wichtige Gründe haben, die Gegend nicht zu verlassen. Sie mußte schleunig und unvorbereitet wenigstens vetnommen werden. Ich fuhr mit den zuzuziehenden Gerichtsbeamten und dem Krüger sofort hin. Es war Abend, als wir ankamen.

Der Krug lag einsam an der alten Landstraße, etwas von dieser zurück, tief in waldigem Gebirge. In der Umgebung einer Viertelstunde befand sich kein anderes Wohnhaus. Ich ließ den Wagen in einiger Entfernung von dem Hause halten. Wir gingen zu Fuße weiter. Der Krüger mußte zuerst allein in das Haus treten. Er brachte die Nachricht zurück, die Dame sei da und in ihrem Zimmer. Er mußte uns zu dem Zimmer führen. Ich trat mit einem Protokollführer ein. Ich war gespannt, denn ich überfiel eine fremde Frau. Ich überfiel sie als eine Verdächtige, des schwersten Verbrechens verdächtig. Sie konnte schuldig, sie konnte aber auch unschuldig sein.

Der Protokollführer und ich waren eingetreten, ohne anzuklopfen, ohne durch das geringste Geräusch unsere Ankunft zu verrathen. Wir standen völlig unerwartet in dem Zimmer, vor der Dame, die darin war. Sie saß bei einer Lampe an einem Tische und las in einem alten Buche, welches sie wohl von dem Wirthe geliehen hatte. Verwundert sah sie auf, als wir plötzlich an ihrer Seite standen, und warf einen raschen, forschenden Blick auf uns. Einen Augenblick schien etwas in ihrem Innern zu zucken, durch ihr Gesicht zu fliegen. Dann erhob sie sich, langsam, ruhig. Sie sah uns fragend an, verwundert, aber mit kalter, fast stolzer Verwunderung.

„Sie irren sich hier wohl,“ sagte sie.

Ihre Erscheinung, ihr Benehmen ließen weder auf Schuld noch auf Unschuld schließen. Um desto vorsichtiger mußte ich verfahren. War sie schuldig, so war sie jedenfalls eine gewandte Frau, die sich zu beherrschen verstand. Jene ordinaire Person, die die Wirthsleute an der Landstraße in ihr gesehen haben wollten, war sie nicht. Hätte sie sich damals so gezeigt, so konnte sie sich auch anders zeigen.

„Ich bin hier recht,“ erwiderte ich ihr. „Ich bin Commissarius des Criminalgerichts. Ich suche Sie.“

Sie verfärbte sich nicht wieder. Sie hatte sich in ihre Rolle schon hineingedacht, sie spielte sie schon, wenn sie schuldig war.

„Was wünschen Sie von mir?“ sagte sie kalt.

„Ist Ihnen der Name Franz Bauer bekannt?“

„Nein, mein Herr.“

„Seit wann sind Sie hier?“

„Seit vorigem Sonntag.“

„Wie kamen Sie hierher?“

„In einem gemietheten Wagen.“

„Allein?“

„Ganz allein.“

„Woher kamen Sie?“

Sie nannte, ohne sich zu besinnen, das Städtchen, in welchem am Sonnabend vorher der fremde Lohnkutscher mit dem Ermordeten und dessen Begleitern angehalten hatte. War sie die Dame, die zu diesen Begleitern gehörte?

„Waren Sie damals allein?“

„Ich fuhr mit zwei Herren.“

„Kannten Sie diese?“

„Nein.“

„Wie waren Sie mit ihnen zusammengekommen?“

„Zufällig.“

Sie erzählte, wie sie, aus dem Norden Deutschlands kommend, auf der Eisenbahn gereist sei. Etwa drei Meilen jenseits des Städtchens sei für ihre Weiterreise die Eisenbahn zu Ende gewesen. Sie habe auf der Station die nächste Post erwarten wollen, als sie einen auf dem Bahnhofe haltenden Lohnkutscher bemerkt, der, wie es ihr geschienen, auf Reisende gewartet habe. Sie habe sich an ihn gewandt. Er habe in der Richtung fahren wollen, die sie nehmen mußte. Er habe noch Platz im Wagen gehabt; nur zwei Herren führen noch mit. Die beiden Herren seien gleich darauf erschienen. Wenige Minuten später seien sie abgefahren. So sei sie mit den beiden Herren zusammengekommen.

„Wie sahen die beiden Herren aus?“

Sie beschrieb sie, genau wie die Wirthsleute in dem Städtchen. Sie war jene Dame. Sie war in der Gesellschaft des Ermordeten gewesen. Sie hatte sich seitdem verborgen, hier tief im Gebirge versteckt gehalten. Sie hatte in ihrem Versteck den heimlichen Besuch eines Menschen gehabt, der nach Allem der zweite Begleiter des Ermordeten gewesen war. In ihrer und dieses Mannes Gesellschaft war der Unglückliche zuletzt gesehen, so nahe, der Zeit wie dem Orte nach so nahe dem an ihm verübten Verbrechen. Wie drängten diese Umstände so sprechend zu einem dringenden Verdachte einer Schuld gegen die Fremde! Und sie war völlig ruhig, kalt, unbefangen!

„Wie lange waren Sie in der Gesellschaft der beiden Herren?“ fragte ich sie.

„Bis zum Abend des nämlichen Tages.“

„Trennten Sie sich von den Herren?“

„Sie trennten sich von mir.“

„Zu gleicher Zeit?“

„Zu gleicher Zeit.“

„Wo war das?“

„Mitten auf der Landstraße.“

„War es eine bewohnte Gegend?“

„Es war im freien Felde. Nur auf der einen Seite der Straße befand sich eine Waldung.“

„War es früh oder spät am Abende?“

„Wir hatten zu Mittag in einem Städtchen angehalten. Es konnte drei Uhr Nachmittags sein, als wir von da fort fuhren. Wir waren schon einige Zeit im Dunkeln gefahren, als ich einschlummerte. Ich erwachte von einem Anhalten des Wagens. Wie lange ich bis dahin geschlafen hatte, weiß ich nicht. Die beiden Herren stiegen gemeinschaftlich aus und verabschiedeten sich mit kurzen Worten von mir. Ich fuhr mit dem Kutscher allein weiter. Derselbe erzählte mir nachher, der eine der beiden Herren, der kleinere, habe dort, wo sie ausgestiegen, einen in ein benachbartes Dorf führenden Seitenweg einschlagen wollen. Der Andere habe zwar, nach seiner Angabe, erst etwa zehn Minuten weiter den Wagen und die Straße verlassen müssen, sich jedoch, um keinen nochmaligen Aufenthalt zu verursachen, zum gemeinschaftlichen Aussteigen mit jenem entschlossen.“

„Haben Sie später einen der beiden Herren wiedergesehen?“

„Nein.“

Sie sprach auch das Wort völlig so ruhig, unbefangen und bestimmt, wie das Andere.

Nach der Mittheilung des Krügers war gleichwohl gerade der eine der Beiden bei ihr gewesen. Ich fuhr ebenso unbefangen, wie sie war, in meinen Fragen fort:

„Wie lange gedenken Sie sich hier noch aufzuhalten?“

„Ich weiß es nicht.“

„Welches ist der Zweck Ihres hiesigen Aufenthaltes?“

Sie sah mich befremdet, vornehm an.

„Haben Sie ein Recht, danach zu fragen, mein Herr?“

„Es käme darauf an. Indeß, Ihr Name, wenn ich bitten darf?“

Sie besann sich einen Augenblick, dann sagte sie leicht und als wenn sie sich entschlossen habe, mir die kleine Gefälligkeit zu erweisen:

„Antonie Hein.“

„Aus –?“

Sie wurde wieder vornehm.

„Mein Herr, meinen Namen habe ich Ihnen genannt, ich fand kein Bedenken; von meiner Heimath. und von meinen sämmtlichen übrigen Verhältnissen jedoch erfahren Sie durch mich kein Wort. Ich habe meine Gründe dazu, und wenn Sie nach den Gründen sollten fragen wollen, so genüge Ihnen schon im Voraus meine Erklärung: ich finde es gut, es gefällt mir, Ihnen über mich nicht ein Wort weiter zu sagen.“

Sie sprach mit ihrer ganzen Ruhe, aber auch mit einer Entschiedenheit und Festigkeit, die eine große Willenskraft anzudeuten schienen.

(Fortsetzung folgt.)



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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_356.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)