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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)


In dieser letzteren Richtung nun ist die Anschauung der lebenden Natur jedem Denkenden wichtiger, als die starren mathematischen Wahrheiten der Astronomie, Physik, Stöchio-Chemie. Nach der alten Schule waren die Thiere vernunftlose Dinge, rein mechanisch handelnde Wesen; sie zerfielen (wie die Menschen und sogar die Geister) in gute und böse. Die neuere Weltanschauung lehrt aus den Thatsachen, daß jedes Erschaffene gut an seinem Platze ist: daß der häßliche Aasgeier, die gefräßige Hyäne und der unersättliche Haifisch ebenso nützlich, ebenso berechtigt im Haushalt der Natur sind, wie die sanfte Taube, das fromme Lamm und der fette Karpfen. Die neuere Naturwissenschaft lehrt uns in allen Thieren bis dahinab, wo sogar die Nerven fehlen, noch ein geistiges Leben finden, dessen Richtungen und Aeußerungen immer der sonstigen Bestimmung und Einrichtung einer jeden Thierart, in individueller und socialer Hinsicht, auf’s Vollkommenste entsprechen. Also seelisches Leben und Sittengesetze durch alle Thierclassen hindurch! Keine Seelenäußerung im Menschen, die nicht, wie die körperlichen Structuren desselben, in irgend einer Thierclasse schon ihr Vorbild hätte! Also das ganze gesammte Thierreich gleichsam eine in zahllose Einzelheiten auseinandergelegte Psychologie, wie es die vergleichende Anatomie längst hinsichtlich der Körper kundgethan hat. So kommt es denn, daß wir in Beobachtung des Lebens und Treibens der Thiere recht eigentlich in einen Spiegel unseres eigenen geistigen Wesens blicken; in den Thiersitten ein Bild der Menschensitten, in den Thierstaaten ein Vorbild menschlicher Staatseinrichtungen. Wir spiegeln uns in den Thieren und lernen von ihnen.

Für diese psychologischen Beobachtungen nun, so wie für die sinnlicheren (Form, Farbe, Kleidung, Bewegung), für das wirklich wissenschaftliche Begreifen der Thierwelt bieten offenbar die zoologischen Gärten eine weit vorzüglichere Gelegenheit dar, als die bisher üblichen Menagerien oder Excursionen. Dort wird jede Thierart auf eine solche Weise untergebracht und gehegt, welche am besten ihren Gewohnheiten und Eigenthümlichkeiten entspricht. Sie sind wie zu Hause. In der Menagerie dagegen sind sie eben Zellengefangene. Wird Jemand die Menschennatur an den Zellenbewohnern

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 381. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_381.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)