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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

beweisen, daß Sie durch Angabe der Wahrheit den eigentlichen Schuldigen erkennen lassen. Sie wissen die Wahrheit; ist es so?“

Seine Augen waren wieder auf mich gerichtet.

„Es ist so!“ sagten sie. Aber seine Lippen konnten es nicht aussprechen. Er war unschuldig, ich konnte nicht mehr daran zweifeln; aber er kannte den Thäter, woran ich ebenfalls nicht mehr zweifeln konnte. Welche furchtbare Gewalt aber hielt ihn zurück, den Mörder zu nennen?

„Unglücklicher, wollen Sie sich dem Beile des Henkers überliefern?“

„Ich kann nicht! Ich kann nicht!“ rief er in Todesangst.

Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen; dann sah er mich wieder an, und ich glaubte in das Gesicht eines Sterbenden zu blicken.

„Sein Sie barmherzig,“ bat er, „und lassen Sie mich abführen, es ist mir, als gehe es mit mir zu Ende, lassen Sie mich in Ruhe sterben.“

„Und Sie wollen nicht durch die Wahrheit Ihre Ehre, Ihr Gewissen retten?“

„Sein Sie barmherzig.“

Ich mußte es sein, denn er war unschuldig; aber wer war der Thäter? Durch wen sollte ich ihn entdecken? Vielleicht noch durch Grote? Er war nicht blos zähe, er hatte mehr Festigkeit, weit mehr moralische Festigkeit, als ich ihm jemals zugetraut hatte. Und es mußten sittlich anzuerkennende, vielleicht an sich gar edle Motive sein, die sie ihm gaben. Durch die Hein? Ich konnte, namentlich seitdem sie dem jungen Manne gegenübergestellt werden wollte, in ihr nur immer mehr eine moralisch verdorbene, geriebene Person finden. Was war von ihr zu erwarten? Was vermag alle Kunst des Inquirenten, wenn ihm nicht Glück und Zufall zu Hülfe kommen?

Ich hatte Signalement und Reiseroute der Hein durch die öffentlichen Blätter bekannt machen lassen und zur Auskunft über sie aufgefordert; ich erwartete Nachricht über sie, und erst wenn eine solche einging, konnte ich weiter verfahren. Es kam keine; statt ihrer aber kam am vierten Tage nach den letzten Verhören der Inspector des Gefängnißhauses zu mir.

„Die Antonie Hein ist heute Nacht entwichen,“ sagte er.

„Wie war das möglich? –“

Zu Gefangenwärtern wurden vorzugsweise Unterofficiere genommen, Unterofficiere, die sich ausgezeichnet hatten; manche wurden vom Regiment – weggelobt, und man konnte sich dann, wenn sie einmal da waren, ihrer nur wieder entledigen, wenn man sie ebenfalls hätte wegloben wollen, oder wenn sie einen dummen oder schlechten Streich gemacht hatten, und es also zu spät war. Auch unter den Gefangenwärtern des Criminalgerichts war ein weggelobter Unterofficier, ein hübscher Mensch, der gern hübsche Frauen sah. Seine Station aber war in einem ganz anderen Revier, als das, in dem die Hein saß. Sein Dienst konnte ihn gar nicht mit ihr zusammenführen, und Niemand wußte, daß er sie auch sonst gesehen hätte. Dennoch fiel mein Verdacht auf ihn, wie auch der des Inspectors. Wir forschten nach, combinirten, ermittelten Einzelnes und hatten zuletzt das Ganze: er hatte sie entfliehen lassen. Sie war wirklich eine eben so verworfene, wie geriebene Person, welcher er in seinem Leichtsinn nicht hatte widerstehen können; auch hatte er ihr außerdem vor ihrer Flucht ein Billet an den Gefangenen Grote bestellt. Er wurde für die Zukunft unschädlich gemacht, aber für die Untersuchung war der Schade einmal da. Und doch nicht. Auch ein „zwölf Jahre gedienter“ Unterofficier sollte einmal durch ein Verbrechen etwas Gutes stiften.

Schon wenige Stunden nach der Entdeckung der Flucht der Hein hatte ich Alles heraus, auch das eigene Geständniß des Schuldigen. Wohin aber war sie entflohen? Darauf kam mir zunächst Alles an. Der Gefangenwärter hatte ihr einen Wagen verschafft. Sie hatte ihm nur allgemein gesagt, daß sie zur nächsten Grenze wolle, weshalb ich nach allen Richtungen dem Wagen nachsetzen ließ; dann vernahm ich Grote über das Billet. Er leugnete den Empfang desselben nicht, hatte es aber sofort verbrannt; aber er theilte, mit allem Anschein von Offenheit, dessen Inhalt mit. Sie hatte ihn ermahnt, standhaft zu sein; Niemand könne ihm etwas anhaben. Weiter hatte in dem Zettel nichts gestanden.

„Ein neuer Beweis gegen Sie,“ hielt ich ihm vor, „daß Sie freventlich die Wahrheit verschweigen.“

„Ich kann nicht anders, so wahr ich unschuldig bin und Gott mir helfen möge,“ war seine einzige Antwort.

Die Gensd’armen und Polizeibeamten, die den Wagen verfolgt hatten, kamen zurück. Den Wagen hatte Keiner angetroffen, seine Spur aber ein Einziger, ein Gensd’arm, und zwar ein Gensd’arm, der sich klug benommen hatte, und ferner klug benahm. Er ließ sich sofort nach seiner Rückkehr bei mir melden und rapportirte Folgendes:

Er hatte die Verfolgung des Wagens in der Richtung nach dem Kruge gehabt, in dem ich die Entflohene verhaftet hatte. Erst fünf Meilen von der Stadt, erst weit jenseits des Kruges, hatte er die erste Kunde von ihm erhalten. Die Flucht hatte um Mitternacht stattgefunden; gegen Morgen war der Wagen auf dem Wege zur Landesgrenze hin gesehen worden, und er folgte dem bezeichneten Wege. Eine Meile weiter erhielt er die zweite Nachricht, nach welcher der Wagen weiter zur Grenze gefahren war, jedoch leer; nur der Kutscher hatte auf dem Bocke gesessen, im Wagen aber Niemand. Eine dritte Nachricht gab ihm den Schlüssel, indem eine Köhlerfrau ein einzelnes Frauenzimmer von jener Landstraße her quer durch Wald und Gebirge hatte eilen sehen.

Ohne einen Schritt weiter hinter dem leeren Wagen herzureiten, oder mit einem einzigen Menschen weiter ein Wort zu sprechen, war der Gensd’arm eilends zurückgekehrt, um mir das Erfahrene, aber auch Folgendes mitzutheilen, das er schon vor einiger Zeit erfahren, das aber jetzt erst auf einmal eine Bedeutung für ihn gewonnen hatte: In dem benachbarten Kreise, nicht weit von der Grenze des Gerichtsbezirks, lag ein adliges Gut, die Diburg genannt, welches einer alten freiherrlichen Familie des Landes gehörte, die aber schon seit vielen Jahren verarmt war und sich nur noch dadurch zu erhalten vermocht hatte, daß von Jahr zu Jahr mehr Stücke von dem Gute verkauft wurden. Zuletzt war nur noch das Schloß Diburg mit einem Garten, einer kleinen Holzung und einigen Morgen Ackerland da, und das so Uebriggebliebene war verfallen genug. Es war seit ungefähr zehn Jahren in dem Besitze zweier Geschwister, der letzten Sprößlinge der alten freiherrlichen Familie von Lengnau. Der Sohn hatte das Gut – wenn jene wenigen Stücke noch den Namen verdienten – von seinem Vater übernommen und die Schwester wohnte bei ihm auf dem Schlosse. Der Sohn war bei dem Tode des Vaters einige zwanzig, die Tochter dreizehn bis vierzehn Jahre alt gewesen. Beide hatten nichts als den ärmlichen Gutsrest. Der Sohn hatte auch nichts gelernt, denn dem Vater hatte es an Mitteln gefehlt, ihn einer standesmäßigen Bestimmung zu widmen. Er selbst hatte zu keiner ernsten Beschäftigung Lust gehabt, und so war er unter Jägern auf der Jagd, unter Knechten auf dem Felde, unter Rohheiten überall aufgewachsen. Er war bald der Roheste von Allen geworden, und eine Bösartigkeit des Charakters wurde ihm allgemein nachgesagt.

Der jüngeren Schwester hatte, trotz ihres sanften, weichen Gemüthes, das Unglück gedroht, nicht viel anders als ihr Bruder zu werden, eine entfernte Verwandte jedoch hatte sich ihrer angenommen und sie zu sich in eine größere Stadt gebracht, in der sie lebte. Das Fräulein hatte hier eine vortreffliche Erziehung genossen. Aber auf einmal hatte ihr Bruder sie aus der Stadt zurückgeholt und nach Schloß Diburg geführt; dort hatte sie bleiben müssen, eine Veranlassung dazu kannte Niemand. Das Fräulein war weinend und traurig zurückgekehrt, und man hatte sie in der ersten Zeit fast nur in Thränen gesehen, dann hatte sie in einem stillen Grame sich mehr und mehr abgezehrt. Sie war zur Zeit ihrer Rückkehr ungefähr neunzehn Jahre alt gewesen. Wenige Monate nach ihrer Rückkehr in das Schloß war ihr Bruder, der Freiherr, plötzlich verschwunden; Niemand wußte wohin, Niemand auch warum. Man konnte sich nur in ungewissen Conjecturen verlieren, die in seinem wilden, wüsten Sinn und in seinen öfteren Versicherungen, er werde sein Glück in der weiten Welt suchen, ihren Grund hatten. Seine Schwester war auch nach seiner Entfernung in dem alten, einsamen Schlosse geblieben, und es hieß, der Bruder habe ihr unter Drohungen verboten, das Schloß zu verlassen. Von ihm hatte man nie wieder etwas vernommen, auch hatte er seiner Schwester nicht die geringste Nachricht von sich gegeben.

(Schluß folgt.)



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