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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

mich mit Fragen zu verschonen, die ich Ihnen nie beantworten dürfte, die dennoch das Herz der Schwester zerreißen müßten?“

Sie sah mich flehend an. Ich mußte sie doch fragen.

„Sie würden mir auch dann nicht antworten, wenn von Ihren Antworten das Schicksal eines Unschuldigen abhinge, der des Mords verdächtig in Untersuchung und Haft ist?“

Darauf war sie nicht gefaßt gewesen. Sie zuckte zusammen und wurde bleicher. Sie suchte nach einer Antwort, nach einem Entschlusse.

„Der verhaftete Unschuldige, mein Fräulein, heißt Wilhelm Grote.“

„Ewiger Gott!“ schrie sie auf. „Ich hatte es geahnt!“

Ich mußte sie zu einem der alten Lehnsessel führen. Dann fuhr ich fort:

„Ich ermesse den schweren Kampf, den Sie kämpfen müssen, mein Fräulein. Gestatten Sie mir vor der Hand einige Fragen, die ihn nicht berühren.“

„Fragen Sie, mein Herr.“

„Vorgestern ist eine fremde Dame hier im Schlosse eingetroffen?“

„Vorgestern in der Frühe.“

„Sie hat mit Ihrem Bruder das Schloß verlassen?“

„Heute Abend.“

„In welchem Verhältnisse stand sie zu Ihrem Bruder?“

„Mein Herr, die Fremde war eine Verworfene. Aber mein Bruder –“

„Ihr Bruder, mein Fräulein?“

„Er war, er ist in ihren Fesseln, mit einer blinden, wilden Leidenschaft, ganz, wie sein Charakter wild und unbändig ist.“

„Dürfen Sie mir sagen, was Ihr Bruder mit der Fremden verhandelt hat?“

Sie machte schweigend eine abwehrende Bewegung.

„Und Wilhelm Grote?“ fragte ich noch.

Ihre innere Aufregung drängte einen Strom von Thränen in ihre Augen. Sie stand auf.

„Verabschieden Sie mich, mein Herr, ich bitte Sie darum; ich muß mich sammeln und in Ruhe mit mir zu Rathe gehen. Morgen früh, wenn ich bitten darf, oder, wenn Sie nicht so lange bleiben können, in einer Stunde. Schlafen werde ich in dieser Nacht nicht.“

Ich verließ sie. Die Arme! Die Unglückliche! Ihr Schicksal ging mir tief zu Herzen. Sie hatte so viel, so lange gelitten, und der schwersten Stunde ihres Lebens ging sie jetzt entgegen. Den Geliebten oder den Bruder, wen sollte sie zum Mörder machen? – Ich mußte mit dem Suchen nach Ueberführungsstücken fortfahren, eigentlich damit beginnen. Etwas durfte ich zu finden hoffen, wenn auch nur irgend ein verlorenes oder vergessenes Stück Papier, das Aufklärung über frühere Beziehungen des Freiherrn gab. Es konnte weiter daran angeknüpft werden.

Der Schulze kam nicht in das Gemach zurück. Er sah wohl nach den verschiedenen Posten, die im Hause umhergestellt waren. Ich suchte auf den Tischen umher, fand aber nichts, ging wieder zu den alten Wandschränken und schloß einen von ihnen auf, einen andern, als den, in dem ich vorhin die Oeffnung entdeckt hatte. Es war ein großer, tiefer, mächtiger Schrank. Auch in ihm hingen Kleidungsstücke, die ihn füllten. Es waren alte Herrenkleider, von denen die ältesten Jahrhunderte alt sein mochten. Sie repräsentirten die Mode von Jahrhunderten, doch nicht auch den Glanz. Wo eine Gold- oder Silberstickerei gewesen war, war sie abgetrennt, abgerissen. Die stolze Pietät der Vorfahren hatte hier von Geschlecht zu Geschlecht das Prunkgewand des Vaters, ihn und sich ehrend, aufbewahrt. Der letzte Sprosse des stolzen Geschlechts hatte sie beraubt. Auch so vergeht der Glanz und der Stolz alter Geschlechter!

Die frevelnde Hand war vielleicht nicht einmal zurückgebebt, als sie den Raub beging. War sie doch später selbst vor einem Raubmorde nicht zurückgebebt! So beginnt der Verbrecher seine Laufbahn. Ich sah die alten stolzen Freiherren vor mir. Wie mochten sie gezürnt haben, als jener Frevel gegen sie verübt wurde! Ueber den Raubmörder verhüllten sie die stolzen, edlen Gesichter, in Scham, in Trauer. Ich wandte mich ab von dem Schranke.

Da – es war mir, als wenn ich unmittelbar vorher ein leises Geräusch vernommen hätte. Ich hatte nicht darauf geachtet. Der Schulze wird zurückkehren, hatte ich gedacht. Da stand eine wirkliche Gestalt vor mir. Kein edles, kein in Scham und Trauer verhülltes Gesicht. Aber ein stolzes, wie von wilder Leidenschaft verzerrtes. Der Freiherr Dietrich von Lengnau! Er mußte es sein. Seine Gestalt glich der Wilhelm Grote’s. Er trug denselben Vollbart, dasselbe lockige Haar. Beide waren nur dunkler, schwärzer, glänzender.

Er war durch jene Oeffnung des alten Wandschranks hereingekommen. Jene Oeffnung mußte durch einen verborgenen Gang zu dem geheimen Ausgang des Schlosses führen. Ich hatte es in dem Momente combinirt, da ich ihn sah. Ich hatte es combinirt, während zugleich das Blut in den Adern mir zu Eis gerinnen wollte. Warum war er zurückgekehrt? Was wollte der wilde, unbändige, gewaltthätige Mensch hier? Welche Leidenschaft mußte in ihm erwachen, da er einen Fremden in seinem Zimmer fand, wühlend unter seinen Sachen! Nein – denn auch er mußte im Moment combiniren – keinen Fremden, aber den Criminalbeamten, der ihn verfolgte, vor dem er geflohen war, der ihn dem Beile des Henkers überliefern sollte!

Er stand stolz vor mir. Sein Gesicht war verzerrt. Er sah mich finster an, mit einem Ausdrucke wachsender Wildheit. Ich erwartete einen Angriff von ihm, einen Angriff für sein Leben. Ich wollte mich für mein Leben wehren und griff nach einem Pistol, das ich auf der Brust trug.

„Sie rühren sich nicht!“ rief er mit gedämpfter Stimme.

Ich konnte mich schon nicht mehr rühren. Seine Rechte hatte mein Handgelenk mit riesiger Gewalt umspannt. Mit seiner Linken zog er ruhig ein gespanntes Pistol hervor.

„Wenn Sie einen Laut von sich geben, sind Sie des Todes.“

Ich war in seiner Gewalt. Was sollte folgen? Er sah sich langsam in dem Zimmer um. Dann wandte er sich wieder zu mir.

„Sie sind Criminalrichter, mein Herr?“

„Ja.“

„Sie suchten mich hier?“

„Ja.“

„Dann nach Beweisen gegen mich?“

„Ja.“

„Wissen Sie, mein Herr, wo Sie hier sind?“

„In Ihrem Gemache. Ihr Diener hat mich auf mein Verlangen hierher geführt.“

„Sie sind auch in dem Gemache meiner Vorfahren.“

Ich schwieg.

„Und es ist gut, daß Sie hier sind. Ich brauche keinen andern Zeugen herbeizurufen, nicht den greisen Diener.“

Wozu wollte er einen Zeugen? Der Ausdruck der Verzerrung in seinem Gesichte ließ nach. Aber es wurde ruhiger, es wurde beinahe edel stolz.

„Hören Sie mir zu, mein Herr,“ fuhr er fort. „Ich stamme aus einem edlen Geschlechte. Ich bin der Letzte dieses Geschlechts und bin ein Verworfener. Alter Same artet aus. Ich bin entartet und meinte, ich könnte es ertragen. Als ich aber heute dem Schlosse meiner Väter den Rücken gewandt hatte, für immer, da fühlte ich, mein Herr, daß ich Alles könne, aber Eins nicht. Ich bin der Mörder, mein Herr, den Sie suchen. Ich habe meinen Namen, mein Geschlecht, meine Ahnen entehrt. Hier, in meinem, in ihrem Schlosse, in dem Gemache, in dem ich, in dem sie gelebt haben, hier, wo ihre edlen Geister mich umschweben, hier bin ich ihnen, hier bin ich mir die Sühne schuldig. Bezeugen Sie es der Welt, mein Herr, und meiner armen Schwester.“

Er ließ meinen Arm los. Er setzte das Pistol an seine Stirn. Ich wollte aufschreien, aber er war rascher als ich, und seine Hand drückte ab. Ehe ich mich besinnen konnte, lag eine Leiche vor mir. Der alte, greise Diener des Hauses war der letzte ehrliche Mann in dem Schlosse der stolzen Freiherrn von Lengnau. Der letzte Sproß des stolzen Geschlechts hatte sich doch ein stolzes Herz bewahrt. Er hatte sich als den Mörder bekannt, den ich suchte. Er war todt.

Willhelm Grote legte ein volles, offenes, nicht mehr Geständniß, aber Zeugniß ab. Er hatte den Freiherrn von Lengnau in Californien wiedergetroffen, aber erst in der letzten Zeit seines dortigen Aufenthalts, als er schon im Begriff gestanden, nach Europa zurückzukehren. Grote selbst hatte damals sich schon sein Vermögen erworben. Der Freiherr hatte in dem Goldlande sich zehnmal etwas erworben und es zehnmal wieder verloren, durch einen leichtsinnigen, wilden, wüsten Lebenswandel, durch liederliches Herumtreiben mit verworfenen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_406.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)