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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Am folgenden Tage, nachdem Schamyl seine neue Wohnung besichtigt hatte, hatten wir uns vorgenommen, dem hochwürdigen Gregorius, Bischof von Kaluga und Borofsk, einen Besuch zu machen. Als ich ihn bedeutete, daß unser Hochwürdigster sich freiwillig das Gelübde des Fastens auferlegt und außerdem allen Familienfreuden entsagt habe, konnte sich Schamyl anfangs von der Wahrheit meiner Worte nicht überzeugen; nach meinen wiederholten Versicherungen aber äußerte er die höchste Hochachtung für einen Mann, welcher, im Besitze einer so hohen Würde, sich habe entschließen können, dem Genusse der höchsten irdischen Glückseligkeit zu entsagen. Er erwartete mit Ungeduld den Abend, um bei seiner Hochwürden zu erscheinen.

Endlich schlug es sechs Uhr, und wir machten uns auf den Weg. Der wohlwollende Empfang, den seine Hochwürden dem Schamyl gewährte, versetzte ihn in freudige Aufregung. Nach den ersten Begrüßungen wurde Thee gereicht, und es entspann sich sogleich ein interessantes Gespräch, welches einerseits den klaren Verstand des Erzbischofs, andererseits die originelle Anschauungsweise des ehemaligen Hauptes der muselmännischen Geistlichkeit im Kaukasus beurkundete, der trotz seiner Würde doch weiter nichts als ein einfaches Kind der Natur war. Seine einfachen Antworten und noch mehr seine naiven Fragen stempelten ihn vollständig dazu.

Die erste Frage, die der Erzbischof ihm vorlegte, war ganz geeignet, der darauf folgenden lebhaften und höchst anziehenden Unterhaltung eine bestimmte Richtung zu geben. Der Hochwürdigste fragte ihn nämlich: „Was ist nach Deiner Meinung Ursache, daß ein und dasselbe Wesen, vor dem sich die ganze christliche und mohamedanische Welt beugt, und welches von Beiden als der Allmächtige und der Allgütige angebetet wird, über die Christen seine volle Güte und Langmuth ausgießt, und von dem Muselmanne nur die strenge Erfüllung des Gesetzes verlangt, indem er die Sünder mit den Strafen der Ewigkeit bedroht, aber keine Hoffnung auf die Wirkungen der Buße zuläßt?“.

Diese dem Anscheine nach etwas schwierige dogmatische Frage löste Schamyl schnell und einfach, wozu vorzüglich Gramoffs Übertragung derselben in das bekanntlich sehr wortarme kumükische Idiom das Ihrige beitrug. Gramoff übersetzte den Gedanken des Erzbischofs in folgender Weise: „Warum haben wir und Ihr einen und denselben Gott, und warum ist er für die Christen so gütig und für die Mohamedaner so streng?“

„Deshalb,“ antwortete Schamyl, „weil Euer Issá (Erlöser) selbst so gütig war, der unsrige dagegen so streng; zudem ist Euer Volk gut, das unsrige hingegen ist bösartig – es sind Räuber (Charamsadàlar), und darum muß auch Gott strenger mit uns verfahren: für jede Sünde gilt es den Kopf.“

Bei diesen Worten lächelte Schamyl und deutete mit der Hand auf den Hals. Auch wir konnten uns bei dieser naiven Antwort des Lächelns nicht enthalten.

Schamyl’s neue Bekannten wurden gar bald gewahr, welch’ ein gutes, gefühlvolles Herz unter so viel rauhem Aeußern schlug. In jedem Hause, wohin er auch kam, hatte er sich noch nicht gesetzt, als sich auch schon die Kinder um ihn drängten und auf seinen Knieen saßen. Schamyl liebkoste sie mit einer solchen Zärtlichkeit, mit so viel kindlicher Gutmüthigkeit, daß auch nicht der geringste Zweifel über die Aufrichtigkeit seiner Gefühle stattfinden konnte. Ebenso viele Gutmüthigkeit zeigte er beim Anblick der geflügelten Gefangenen, für welche die Kalugenser, wie es scheint, eine besondere Vorliebe haben, denn sie unterhalten dieselben schaarenweise und zwar in besonderen, sehr hübschen netzumspannten Käfigen, die gewöhnlich ein oder mehrere Bäumchen im Salon umhüllen. Schamyl blieb häufig vor denselben stehen, betrachtete die Zeisige, die Hänflinge und Kanarienvögel, freute sich ihres Gezwitschers und lockte sie mit den Fingern – eine Idylle eigenthümlicher Art! Schamyl, der drohende Repräsentant des Muridismus und aller Schrecken des Bergkrieges, mit Kindern und kleinen Vögeln spielend! – Wie lassen sich diese Gegensätze vereinigen? Wie läßt sich die Möglichkeit träumen, daß derselbe Mann, der jetzt mit kleinen Kindern wie ein zärtlicher Großvater tändelt und mit den Vögelchen spielt, wie ein junges Mädchen, das eben erst die Schulbänke verlassen hat, daß derselbe Mann so viele Wesen seiner Art des Lebens beraubte, ohne irgend einen Grund als die Anfälle ungezügelter Laune, angeborner Blutgier und seines räuberischen Instinctes?

Unter allen den Eigenthümlichkeiten, die ich bis jetzt an Schamyl bemerkte, ist eine einzige bis zur Schwäche entwickelt, nämlich seine ungewöhnliche Vorliebe für die Bettlerzunft, für die er, wie es scheint, eine wahre Leidenschaft hegt. Jedes Zusammentreffen mit einem Bettler hat für Schamyl einen besondern Reiz; er betrachtet es als eine besondere Gunst des Himmels und beeilt sich, ihm Alles zu geben, was er in Chadshio’s Beutel vorräthig findet, und das beläuft sich zuweilen bis auf zehn Silberrubel und mehr. Einst, als wir zu Fuß umherwanderten, begegneten wir einem ärmlich gekleideten Bauerknaben, der gar nicht daran dachte, um ein Almosen zu bitten, sondern nur beim Anblick von Schamyl’s großer Mütze seine eigene ehrerbietig abzog. Schamyl hielt dies für eine Bitte um Almosen, und warf einen ausdrucksvollen Blick auf Chadshio, erhielt aber von diesem zur Antwort, daß er kein Geld mehr bei sich habe. Es war drollig zugleich und rührend, in diesem Augenblicke Schamyl zu sehen; er befand sich in der äußersten Verlegenheit, näherte sich gleichsam beschämt dem Knaben und blickte ihn mit einem Ausdrucke an, als müsse er ihn eines Vergehens wegen um Verzeihung bitten. Endlich streichelte er ihm die Wangen und sprach: „Ich bitte Dich, verlange jetzt Nichts von mir; ich habe jetzt selbst weniger als Du; aber komm zu mir in meine Wohnung, da will ich mit Dir theilen …“

Nicht selten geschah es, daß ich oder Andere dem Schamyl über diese unzeitige Freigebigkeit Vorstellungen machten, zumal da der Spender seiner Wohlthaten, Chadshio, aus Unvorsichtigkeit diese oft solchen Menschen zuwandte, die derselben ganz unwürdig waren. Auf dergleichen Vorstellungen erwiderte Schamyl gewöhnlich:

„Was geht das mich an, wozu der Arme mein Geld verwendet?“

„Man kann aber unmöglich so viel geben.“

„Also wie viel denn?“

„Einen, zwei, drei, meinetwegen fünf Kopeken.“

Schamyl wollte wissen, wie viel das bedeute und was man dafür kaufen könnte. Als man es ihm erklärt hatte, lachte er.

„Wenn wir dem Armen etwas geben,“ sagte er, „so geschieht dies doch, um ihm zu helfen?“

„Freilich.“

„Was kann ihm aber ein Kopeke nützen?“

„Wenn Du ihm gibst, und ein Zweiter und Dritter, so erhält der Arme so viel, als er zu seinem täglichen Brode braucht.“

„Was gehen mich die Uebrigen an? Von mir verlangt der Arme Hülfe, ich also muß ihm beistehen. Gebe ich ihm zu wenig, so ist es so gut, als spottete ich seiner, und in unsern Schriften steht geschrieben, daß man des Armen nicht spotten, sondern ihm beistehen müsse. Steht das in euren Schriften nicht auch?“

Ich gestehe, daß ich gegen Schamyl’s Logik nicht viel einzuwenden fand. – Bei unserm Besuche beim Archimandriten, welcher Rector des Seminars war, wo wir auch die Bibliothek des Seminars in Augenschein nahmen, wurde Schamyl ein neues Testament in arabischer Sprache (Indshil) gewahr. Er bat, ihm dasselbe auf einige Zeit zu leihen, verschloß sich in seine Zimmer und vertiefte sich in das Lesen desselben, indem er sich zugleich mit einem Haufen von Büchern seines Glaubens umgab. Nach einigen Tagen hatte er das neue Testament durchgelesen und sagte: „Kop jachschi! Dies Buch enthält viel Gutes, Vieles, was ihr nicht erfüllet. Es stehet darin geschrieben, wir sollen unser Almosen mit der rechten Hand geben, sodaß die linke nichts davon wisse. Das habe ich nicht gewußt; das finde ich sehr gut und recht. Tschoch jachschi! Walla jachschi!“ fügte er zum Schluß hinzu.

Bald darauf erfuhr ich, daß Chadshio gewöhnlich nach dem Mittagsmahle in der Nähe unserer Wohnung spazieren ging und dort die Personen, die seiner Meinung nach Arme sein mußten, anhielt, um ihnen Almosen auszutheilen. In der Folge gestand er mir, daß in den drei oder vier Tagen, die er dazu benutzt hätte, es sehr häufig geschehen wäre, daß seine Bettler zu seiner großen Verwunderung nicht nur das Almosen ausgeschlagen, sondern auch noch, anstatt ihm zu danken, über ihn gelacht hätten. Dem wohlthätigen Muriden war es auch nicht selten widerfahren, daß seine Armen nach Empfang des Geldes sich kein Gewissen daraus gemacht hatten, dasselbe vor seinen Augen in den Kabak zu tragen. Eine dieser Scenen half mir, den Muriden und Schamyl von ihrer unüberlegten Wohlthätigkeit zu heilen.

Sehr anziehend waren die Auftritte zwischen Schamyl und den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_410.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)