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Bilder aus dem Leben deutscher Dichter.

Nr. 3. Der Hainbund.

Es war im Jahre 1770, als Heinrich Christian Boie, ein fünfundzwanzigjähriger Jüngling, mit gleichgesinnten Männern in Verbindung trat, um nach dem Vorbilde des mit großem Beifall aufgenommenen Pariser „Almanac des Muses“ von Göttingen aus einen „Deutschen Musenalmanach“ erscheinen zu lassen, der die Liebe und Achtung für die heimathliche Dichtkunst in immer weitere Meise des Volkes hinaustragen sollte. Obschon selbst ohne große poetische Begabung, glückte es dem jungen Manne, alsbald einen Dichterkreis um sich zu sammeln, welcher dem kleinen Göttingen für alle Zeiten einen Ehrenplatz in der Geschichte der deutschen Nationalliteratur sichert und erst nach Jahrzehnten von dem Sternenkranze verdunkelt ward, der von Jena und Weimar aus seine leuchtenden Strahlen über Deutschland und Europa warf. Im Verein mit Gottfried August Bürger, dem Dichter der deutschen Volksballade, und bald darauf mit Johann Martin Miller mit dem Hannoveraner Wehrs, der gleich Boie kein großes poetisches Talent, aber ein feinfühlendes Urtheil für alles Schöne und Edle besaß, mit dem trefflichen Ludwig Heinrich Christoph Hölty, der jedoch schon sechs Jahre später ein Opfer der Schwindsucht wurde, mit Johann Heinrich Voß, dem Dichter der „Louise“ und Uebersetzer der Odyssee, welcher zu dieser Zeit nach Göttingen kam und den deutschen Musenalmanach mit fleißiger Hand unterstützte, knüpfte Boie einen Freundschaftsbund, der sich bald zu einer poetischen Genossenschaft mit ganz entschiedenem Charakter entwickelte. Alle waren von dem gewaltigen Eindruck erfüllt, welchen Lessings kürzlich erschienene Emilie Galotti und Klopstock’s David hervorgerufen, und begeisterten sich im Glauben an ihren eigenen Dichterberuf. Auch Karl Friedrich Cramer, der Sohn des Kopenhagener Hofpredigers, Gottlieb Dietrich Miller, ein Vetter Johann Martins, Esmarch aus Angeln, Meyer aus Harburg, Hahn aus Zweibrücken, Johann Anton Leisewitz aus Celle, die Gothaer Ewald und Seebach schlossen sich neben manchen Anderen jenem Sängerkreise als Mitwirkende oder Mitempfindende an.

Schon im Sommer 1772 begannen die Genannten sich unter Boie’s Vorsitz, der bei diesen Zusammenkünften den bedeutendsten Einfluß übte und als Herausgeber des Musenalmanachs seinem gereiften Urtheile eine praktische Bedeutung unterlegen konnte, regelmäßig an jedem Sonntage, später am Sonnabend Nachmittags zu versammeln, um bei Kaffee und Tabak Klopstock’s und Rammler’s Gedichte zu lesen, sodann die Producte der Genossen anzuhören und gegenseitig zu beurtheilen. Der Tabak spielte hierbei eine Hauptrolle. Voß hatte ihm seine „Ode an den Pfeifenkopf“ gewidmet, Hölty die „Tabakspfeife“ gesungen und Ewald in einem Liede den Apoll sogar zum „Tabaksgott“ erhoben, der dieses edle Kraut wachsen ließ, um durch das „Käuen und Lecken“ desselben die Sterblichen von der Pest zu befreien.

Bald nahm das Dichterkränzchen eine bestimmtere Form an. Voß, einer der Hauptstifter des kurz darauf mit dem Namen des Hainbundes bezeichneten Vereins, berichtet über seine Gründung an seinen Freund Brückner: „Ach, den 12. September (1772), da hätten Sie hier sein sollen! Die beiden Miller’s, Hahn, Hölty, Wehrs und ich gingen noch des Abends nach einem nahegelegenen Dorfe (Wehnde bei Göttingen). Der Abend war außerordentlich heiter, und der Mond voll. Wir überließen uns ganz den Empfindungen der schönen Natur. Wir aßen in einer Bauernhütte eine Milch und begaben uns darauf in’s freie Feld. Hier fanden wir einen kleinen Eichengrund, und sogleich fiel uns Allen ein, den Bund der Freundschaft unter diesen heiligen Bäumen zu schwören. Wir umkränzten die Hüte mit Eichenlaub, legten sie unter den Baum, faßten uns Alte bei den Händen, tanzten so um den eingeschlossenen Stamm herum - riefen den Mond und die Sterne zu Zeugen unseres Bundes an und versprachen uns eine ewige Freundschaft. Dann verbündeten wir uns, die größte Aufrichtigkeit in unseren Urtheilen gegen einander zu beobachten und zu diesem Endzwecke die schon gewöhnliche Versammlung noch genauer und feierlicher zu halten. Ich ward durch’s Loos zum Aeltesten erwählt. Jeder soll Gedichte auf diesen Abend machen und ihn jährlich begehen.“

Sehr wahr bemerkt R. E. Prutz in seiner Schrift über den „Göttinger Dichterbund“: „In Voß’s vertraulicher Schilderung haben wir die Grundelemente des Bundes vollständig beisammen: den Freundschaftsenthusiasmus, die abstracte Freiheitsliebe und das Bardenwesen (woher der Hut und die Eiche), und als Rahmen gleichsam des Ganzen die Kleist’sche Naturschwärmerei, die in sentimentalem Aufschwung schon hier, wie ein Vorbote des Siegwart, den Mond zum Zeugen anruft.“

Der Hainbund gewann jedoch bald eine entschiedene Richtung, die in Klopstock ihren Ausgangs- und Mittelpunkt hatte. Hierzu trugen namentlich Cramer, der die persönliche Bekanntschaft des gefeierten Dichters im Hause seines Vaters gemacht hatte, Hahn, dessen feurige Natur in Klopstock’s Oden den höchsten Ausdruck dichterischer und vaterländischer Begeisterung fand, und endlich Voß bei, der nach Durchlesung des „Messias“ über den Dichter schreibt: „O welch ein Mann ist Klopstock; ein Prophet, ein Engel Gottes kann nicht mehr die Seele durchbohren, als unser Klopstock!“ Noch inniger wurde das Verhältniß des Hainbundes zu Klopstock, als im Herbst desselben Jahres die beiden Grafen Christian und Friedrich Leopold von Stolberg nach Göttingen kamen und die Verehrung für den gefeierten Meister auf’s Höchste steigerten. In ihm erblickte der Bund den großen deutschen Sänger, dessen wieder von Freiheit, Vaterland und deutscher Heldentugend wiedertönten, während den „Galliern“, namentlich Voltaire, um die Wette Tod und Verderben geschworen wurde; dagegen galt Wieland, der Dichter des „Oberon“, den Verbündeten als Sittenverderber und Verräther. Das Bundesgelübde bestand in dem Schwur: „Religion, Tugend, Empfindung und reinen unschuldigen Witz zu verbreiten“. – Gern ergriffen sie daher jede Gelegenheit, ihre Begeisterung für den Dichter der Messiade laut und stürmisch an den Tag zu legen, wie ihren Haß gegen Wieland in zürnender Weise kund zu geben. Hierzu fand sich bald eine willkommene Gelegenheit.

Der zweite Juli des nächsten Jahres, Klopstock’s 49. Geburtstag, sollte mit großer Feierlichkeit von dem Hainbunde begangen werden. In festlichen Kleidern versammelten sich an dem genannten Tage die Bündner auf Hahn’s Zimmer, in welchem eine lange Tafel gedeckt und mit Blumen geschmückt war. Am obern Ende stand ein Lehnstuhl ledig für Klopstock, mit Rosen und Levkoyen bestreut, und auf ihm Klopstock’s sämmtliche Werke. Unter dem Stuhle lag Wieland’s „Idris“ zerrissen. Jetzt las Cramer aus den Triumphgesängen und Hahn etliche sich auf Deutschland beziehende Oden von Klopstock vor. Darauf wurde tapfer Kaffee getrunken und die Pfeifen angezündet, wozu man die Fidibus aus Wielands Schriften benutzte. Boie, der einzige Nichtraucher in der Gesellschaft, mußte doch auch einen Fidibus anzünden und mit den Füßen auf den zerrissenen Idris stampfen. Alsbald wurde die Tafel mit Flaschen voll Rheinwein besetzt. Mit Ernst und Würde trank man im funkelnden Rebengolde Klopstock’s Gesundheit, dem sich bald Toast an Toast auf Luthers Andenken, auf Hermann’s Gedächtniß, auf des Bundes, Ebert’s, Goethe’s, Herder’s Gesundheit anschloß. Der begeisterte Hahn verlas Klopstock’s Ode an den Rheinwein, andere folgten nach. Das Gespräch wurde wärmer und wärmer. Die Hüte auf dem Kopfe stieß man an auf Freiheit und deutsches Vaterland, aus Tugend und Männerwürde. Da brachte einer der Freunde Wieland’s komische Erzählungen herbei. „Verbrannt, verbrannt!“ erscholl es in der Runde, und sogleich loderte die Flamme auf! „Hier auch,“ rief ein Anderer, „das Fratzengesicht aus dem Taschenbuch!“ und unter schallendem Jubel riß man das Titelbild Wieland’s, das dem Leipziger „Almanach der deutschen Musen“ vorgedruckt war, aus dem herbeigeholten Buche und weihte es ebenfalls den Flammen, die in ihrer Gluth das arme Bild dreimal in die Höhe führten, bevor sie es verzehrten.

Diese Klopstocksfeier, „das Wartburgfest der Göttinger Freunde“, erschien den Anwesenden als eine wichtige Demonstration, die sie mit sorglicher Eile in’s Publicum berichteten. Der Bund an der Leine mit seinem literarischen Vehmgericht wurde dadurch noch bekannter in Deutschland und fand daselbst ebenso eifrige Freunde, wie verdächtigende Gegner, bis er nach wenigen Jahren (1778) durch Zerstreuung seiner Mitglieder nach den verschiedensten Gauen des Vaterlands sich trennte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_454.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)