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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Wahl läßt zwischen Christus und Barabbas, und wie die wüthende, von den Priestern gehetzte Menge die Freilassung des Letztern verlangt. Diese Scene, in welcher sich auch der Chor gewissermaßen handelnd einmischt, hat einen ungeheuren Schwung und eine Gewalt, die jede Vergleichung unzureichend erscheinen läßt.

Vor das Erscheinen bei Pilatus ist eine Scene eingeschoben, in welcher Judas verzweifelnd vor dem Synedrium erscheint, das Geld hinwirft und verhöhnt von hinnen eilt. Die Mittelbühne verwandelt sich rasch in eine wilde Gegend, Judas stürzt herein, reißt nach einem kurzen energischen Selbstgespräch den Gürtel vom Leibe, knüpft ihn an den Ast eines freistehenden Baumes, legt sich die Schlinge um den Hals, springt weg und – wird im Moment vom fallenden Vorhange den Augen entzogen.

(Schluß folgt.)




Die Gesellen-Brüderschaften in Frankreich.
Nr. 1.

Die Handwerker waren bekanntlich schon im Mittelalter freie Leute, und hatten daher eine innere Organisation, die ihren höchsten und gleichsam staatlichen Ausdruck in den Zünften fand. Allein dem aristokratischen und particulären Grundzuge jener Zeit gemäß waren die Zünfte nur Verbände für die selbstständigen, ansässigen Meister in jeder einzelnen Stadt. Wie gegen die Consumenten und auswärtigen Producenten, so waren sie auch gegen die Gesellen gerichtet, deren Lohn es niedrig zu halten galt. Aber die Gesellen, wenn auch vielfach belästigt und am Meisterwerden behindert, hatten doch eine ganz andere Stellung den Meistern gegenüber, als die Bauern gegen ihre Grundherren. Sie waren nicht nur in keinem Unterthänigkeits-Verhältniß, sondern sie konnten sich auch durch die Leichtigkeit des Wanderns der Ausbeutung von Seiten der Meister entziehen. Hauptsächlich aus dem Bedürfniß des Wanderns entsprang nun schon sehr frühzeitig eine Verbrüderung unter den Handwerksgesellen, der Compagnonnage, diejenige der gesellschaftlichen Institutionen aus dem Mittelalter, die sich von allen am festesten und reinsten erhalten. Obgleich in nahem Zusammenhange mit den Zünften, als deren Grundlage und Gegengewicht man sie zugleich bezeichnen kann, – hat sie sich dennoch sowohl den unzähligen Eingriffen der absoluten Monarchie, als dem Vernichtungsschlage der Revolution durchaus entzogen. Da sie keine Vorrechte nach außen in Anspruch nahm, so bot sie weder den Königen einen Anlaß zur Erpressung, noch den Demokraten einen Grund zur Aufhebung.

Aber dieselbe Unscheinbarkeit, welcher der Compagnonnage (den ich von jetzt an immer mit „Brüderschaft“ bezeichnen werde, so wie „Compagnons“ mit Genossen) seinen ungestörten Bestand durch die Jahrhunderte verdankt, hat ihn auch den Blicken der wissenschaftlichen Beobachter bis in die neueste Zeit entzogen. Eine Institution, die seit fünfhundert Jahren den größten Theil der französischen Handwerker in seinem wahren Lebenselemente beherrscht und wirklich einen Staat im Staate bildet, mit eigner Verfassung, Gerichtsbarkeit, Finanz- und Fehdegewalt – eine solche Institution wurde erst vor noch nicht zwanzig Jahren dem gebildeten Frankreich bekannt gemacht, und zwar durch einen einfachen Tischlergesellen aus Avignon, Agricole Perdiguier. Dieser tugendhafte und begeisterte Mann bezweckte eine Reform der Brüderschaft, und es gelang ihm wenigstens, mehrere angesehene Publicisten zu interessiren. Der Gegenstand veranlaßte unter anderm George Sand zu einem wohlgemeinten, doch etwas sentimentalen Romane „Le compagnon du tour de France“. Die Oekonomisten und Socialisten aber faßten selbst in Frankreich die Sache lange nicht mit dem Ernste und der Wichtigkeit auf, welche sie im höchsten Grade verdiente. In Deutschland ist sie ganz unbeachtet geblieben, und ich glaube daher eine empfindliche Lücke auszufüllen, wenn ich nach eignen Beobachtungen während einer Reise durch Frankreich, sowie nach dem vorhandenen, freilich sehr kärglichen Material eine getreue Schilderung und Beleuchtung des Compagnonnage unternehme.




I. Ueberlieferungen, Spaltungen und Kämpfe der Brüderschaft.

Die Brüderschaft besteht aus einer großen Anzahl von Verbindungen unter Handwerksgesellen, die sich theils nach den vermeintlichen Gründen, theils nach den Gewerken scheiden. Aber niemals, und das ist sehr bezeichnend für die frühe National-Einheit der Franzosen, gehen sie nach Provinzen oder auch nur größeren Landestheilen auseinander, sondern umfassen sämmtlich ganz Frankreich, stehen dagegen mit dem Ausland in gar keiner Berührung. Es ist ferner ganz französisch, daß sie trotz der uralten und bittern Feindschaft, die zwischen ihnen besteht, in allem Wesentlichen übereinstimmen. Sie sind sehr enge Verbindungen für’s ganze Leben, bezwecken gegenseitige Unterstützung und Förderung jeder Art, besonders auch gesellige Zusammenkünfte, und hüllen sich in heimliche Ceremonien und Gebräuche. Der Eintritt ist freiwillig und erfordert eine, wie es scheint, ziemlich lange Probezeit.

Die sämmtlichen „Compagnons“ (Genossen) zerfallen zunächst in zwei Hauptclassen, die Compagnons du devoir (Genossen des Pflichtbundes) und die Compagnons de liberté (Genossen der Freiheit.) Innerhalb der ersteren besteht die Scheidung in „Enfants de Maître Jacques“ (Kinder des Meister Jacques) und „Enfants de Maître Soubise“ (Kinder des Meister Soubise), während die Genossen der Freiheit ausschließlich „Enfants de Salomon“ (Kinder Salomons) sind. Alle drei Verbindungen leiten nämlich ihren Ursprung nicht weiter her, als vom ersten Tempelbau zu Jerusalem. Unter den Handwerkern, welche mit dem phönicischen Baumeister Hiram den Tempel Salomonis erbauten, waren, so lautet die Ueberlieferung, auch zwei Meister aus Frankreich, Jacques, der Steinmetz, und Soubise, der Zimmermann. Um unter einem so großen Haufen Ordnung und Eintracht zu erhalten, hatte der weise Meister Hiram bestimmte Classen mit eigenthümlichen Gebräuchen und Losungsworten eingeführt. Aus der Ueberlieferung der Freimaurer ist bekannt, daß er der letzteren Einrichtung zum Opfer fiel: Gesellen, die von ihm das Losungswort der Meister erzwingen wollten, um höheren Lohn zu erhalten, erschlugen ihn bei Nacht und verschwanden in den Wäldern. Nach Vollendung des Tempels schifften Meister Jacques und Soubise nach ihrer Heimath zurück; der Erstere landete zu Marseille, der Letztere zu Bordeaux, wo sie nach dem Muster Hiram’s Verbindungen der Gesellen ihres Handwerks gründeten. Es konnte nicht anders sein, als daß diese weise und heilsame Einrichtung sich nicht nur erhielt, sondern über ganz Frankreich ausbreitete, und nach und nach außer den ursprünglichen Gewerken der Steinmetze und Zimmerleute sehr viele andere umfaßte. Meister Jacques und Soubise waren aber trotz der Landsmannschaft und des gemeinsamen Tempelbaus einander feindlich gesinnt; kein Wunder, daß sie mit ihrer Weisheit und Tugend auch ihren Haß den Schülern hinterließen. Er besteht noch heutzutage ziemlich ungeschwächt, und die Veranlassung, die ihn immer wieder anfacht, ist der Streit um das höhere Alter der Verbindung. Mit wahrhaft liebenswürdiger Naivetät datiren nämlich die Steinmetze ihre Gründung vom Jahre 558 vor Chr., die Gründung der Zimmerleute dagegen vom Jahre 550 nach Chr., und verlangen demnach für sich den entschiedensten Vortritt, als Erstgeborene von 1100 Jahren. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß die Zimmerleute ihrerseits die allein Vorchristlichen sein wollen. Beide Parteien geben vor, Urkunden über ihre Entstehung zu besitzen, nur sind diese noch niemals zum Vorschein gekommen.

Die Eifersucht der beiden Abtheilungen der Genossen des Pflichtbundes, so stark sie auch sein mag, tritt jedoch weit zurück im Vergleich mit dem Hasse beider gegen die Genossen der Freiheit. Streiten sich die Steinmetze und Zimmerleute um das Alter und den Rang, so lassen sie sich doch die volle Ehre des rechtmäßigen Bestandes. Die Genossen der Freiheit aber gelten ihnen für anmaßende Empörer, für die Abkömmlinge jener Gesellen, die den Hiram freventlich erschlagen. Die Genossen der Freiheit werfen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_537.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)