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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Die Kriegskosten selbst sind nachweislich bis zu der riesigen Summe von 1889 Mill. Thlr. angewachsen; darunter glänzt eine Vermehrung der Staatsschulden um 1399 Mill. Thlr., zu deren Verzinsung jährlich etwa 65 Mill. Thlr. ausgebracht werden müssen. Summa des unmittelbaren Kriegsschadens: 2582 Mill. Thlr. In zweiter Linie aber marschiren noch die mittelbaren Verluste auf, als: Verringerung der Production, Störung des Handels, Entwerthung der Papiere, Vertheuerung des Brodes und der wichtigsten Lebensmittel. Diese Vertheuerung, nur auf 4 bis 5 Pfennige für das Pfund veranschlagt, ergibt während zweier Jahre eine Mehrbelastung der europäischen Bevölkerung mit 2133 Mill. Thlr. Das Uebrige läßt sich nicht in Zahlen abschätzen. Doch schon aus den genannten Posten bildet sich als Hauptsumme des unmittelbar und mittelbar vom orientalischen Kriege angerichteten Schadens: 4715 Mill. Thlr. Legt man ihn als Kriegssteuer in ganz Europa um, so treffen auf jede Familie etwa 90 Thlr. Schade, daß Kaiser Nicolaus sich nicht entschloß, den Kaiser Napoleon „Bruder“ statt „Vetter“ zu betiteln! Der Kriegsmoloch begnügt sich nicht mit den Opfern, die ihm während des Kampfes hingeworfen werden. Er frißt immer fort, auch wenn er todt ist. Ohne von den empfindlichen Nachwehen der Gewerbe und des Handels zu reden, genießen wir in den Staatsschulden eine höchst fühlbare Fortwirkung der Kriegslasten im Frieden. Die größtentheils aus Kriegen entstandenen Staatsschulden Europa’s betragen gegenwärtig ungefähr 16,000 Mill. Thlr., die mit etwa 640 Mill. verzinst werden müssen.

Fassen wir den jährlichen Militäraufwand Europa’s (1023 Mill.) und die Verzinsung der Staatsschulden zusammen, so erblicken wir ein jährliches Budget von 1663 Mill. Thlrn., die fast ganz nutzlos vergeudet werden. Da das gesammte Einkommen der europäischen Staaten nicht viel über 1800 Mill. beträgt, so bleiben für alle andern Zwecke, für die wahren Bedürfnisse der Gesellschaft, etwa 150 bis 160 Mill. Thlr. übrig. Und das nennt man Blüthe der Civilisation! Indeß wollen wir an der Hoffnung festhalten, daß auch dieser Unsinn durch sein Uebermaß curirt werde. Die politischen und socialen Gefahren des stehenden Heerwesens werden immer drohender. Durch den unerträglichen Druck der Militärlasten wird die Unzufriedenheit der Massen fort und fort genährt. Die Zwangssoldaten selbst, statt immerfort „die Gesellschaft zu retten“, werden einmal sich selbst mitsammt der wirklichen Gesellschaft retten. Sogar ihre Kriegsherrn konnten sich nicht ganz der Wahrheit verschließen; 1814 und 1815, nachdem die Welt alle Genüsse des Militärluxus gründlich durchgekostet, versprachen fast alle Regierungen Abschaffung der Conscription. Dies Versprechen hatte freilich das Schicksal vieler anderer Versprechungen, und die Soldatenpresse dauert noch heute lustig fort, bis sie einmal ein Ende mit Schrecken nimmt. Die unzweideutigsten Beweise des Abscheus vor den Militärfrohnen haben noch keine Reform zu Wege gebracht. Gerade solche Regierungen, welche die bittere Erfahrung von Militärrevolutionen und Truppenabfällen gemacht haben, sind am eifrigsten erpicht, sich immer wieder auf Zwangsbajonnete zu setzen. Den in den meisten Armeen so häufigen Desertionen glaubt man durch verschärfte Strafen abhelfen zu können; trotz aller Erfolglosigkeit wird das System nicht gemildert. Eben so wenig Belehrung schöpfen die Machthaber aus den hartnäckigen und verzweifelten Anstrengungen und Kunstgriffen der vielen Tausende, welche sich dem verhaßten Zwangsdienste zu entziehen suchen und vor der Uniform bis an’s Ende der Welt fliehen. Der Loskauf wird bereits im großen Styl betrieben; dafür werden die schwersten Opfer nicht gescheut. Die Selbstverstümmelung ist so häufig geworden (Oesterreich hatte 1854 nicht weniger als 1414 Fälle), daß die Regierungen sie für wirkungslos erklären und die Unglücklichen brauchen, wozu sie noch gut sind. Besonders ausgedehnt ist seit geraumer Zeit die heimliche Auswanderung, durch welche ein Theil der kräftigen Jugend dem Militärjoch entrinnt, trotz der Vermögensbeschlagnahme und anderer strenger Strafen, trotz der starken Bande, welche den Menschen an die Heimath fesseln. So wanderte in der Pfalz während der beiden Jahre 1853 und 54 fast die Gesammtzahl der militärpflichtig Gewordenen, 9341 junge Männer, mit 11/2 Mill. Gulden heimlich aus.

Solche Zustände mahnen laut genug, nicht länger das Wesen in der Form, die Regierten in der Regierung auf- und untergehen zu lassen. Die allgemeine Unmündigkeit, welche zum Vortheil unserer Vormünder gewaltsam aufrecht gehalten wird, muß mit innerem oder äußerem Verfalle enden, wenn man nicht endlich einmal so viel Verstand und Herz auftreibt, um vom Staate alles wegzustreichen, was nur „zum Staate“ ist. Gibt es aber etwas Ueberflüssigeres und zugleich die Grundlagen der Gesellschaft ärger Untergrabendes, als den soldatischen Zwangsdienst? Mit vollem Recht nannte ihn Chateaubriand „die Gesetzgebung der Hölle“. Tiefste Beherzigung verdienen die Worte, mit denen Schulz-Bodmer seine „Militärpolitik“ schließt: „Von dem Augenblicke an, da die militärische Conscription aufgehört hat, sind – wie schon lange die Briten, Nordamerikaner und Schweizer – alle Völker Europa’s freie Völker geworden: die Franzosen und Deutschen, wie Italiener, Polen, Magyaren und Griechen. Von demselben Augenblicke an sind die Fesseln des Welthandels gebrochen, und der freie Handel breitet seinen wachsenden Segen über die Länder der Erde. Wird zur Unterhaltung zahlreicher stehender Heere nicht mehr das Gut der Völker in maßlosem Umfange verschwendet, so ist zugleich jede Bedrückung der Industrie und des Handels überflüssig und darum unmöglich geworden. Mit der Abschaffung des soldatischen Zwangsdienstes ist freilich auch der eitle Schimmer und das glänzende Elend des Militärdespotismus verschwunden. Aber die Periode der Freiheit und des Friedens, der Ordnung und des leiblichen, geistigen und sittlichen Gedeihens der Nationen hat begonnen. Um so größer ist der Ruhm derjenigen Regierung, die zuerst die entscheidenden Schritte thun wird für die Aufhebung der weißen Sclaverei in Europa, für die Erlösung der Völker und Heere aus den Banden der „Gesetzgebung der Hölle“.“

Was soll aber aus den Staaten ohne Heere werden? Wie soll ein Land sich ohne Soldaten vertheidigen? So fragt der militärische Schlendrian und das bürgerliche Philisterium. Wir sind vollkommen einverstanden, daß man sich gegen feindliche Angriffe vertheidigen muß. Wir verlangen aber, daß dies ernstlich und gründlich geschehe, daß man den Krieg nicht als Lotteriespiel betrachte, sondern mit der Gewißheit des Sieges in den Kampf gehe.

Es gibt drei Systeme der Landesvertheidigung. Das erste, einfachste und wohlfeilste System ist, gar nichts zu thun. Der Feind ist dann sofort unser Freund, und wir brauchen nur alle seine Wünsche zu erfüllen, um uns jede Vertheidigung zu ersparen. Wir machen Honig für jeden Bären, der Lust hat, ihn zu verspeisen. Diesem System der christlichen De- und Sanftmuth hat kürzlich Coemans in der belgischen Kammer einen classischen Ausdruck gegeben, indem er erklärte: „Wehrlosigkeit ist die beste Vertheidigung.“ Auf gleichem Standpunkt engelhafter Bescheidenheit befinden sich die schwärmerischen Friedensfreunde, die uns täglich ausführlich beweisen, daß der Friede viel besser und schöner als der Krieg sei. Nach Cobden, Bright und Comp. wird der Wolf bitter verleumdet: er will die Schafe nicht fressen, sondern nur umarmen. Diese Herren sollten übrigens nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Ihr Staat ist nichts als ein Staat von Privatmenschen, folglich ein Widerspruch. Bei der absoluten Friedenstheorie braucht man gar keinen Staat. Das erste System überlassen wir allen, die lieber Amboß als Hammer sind.

Das zweite System der Landesvertheidigung ist das der stehenden Heere. Es ist das kostspieligste und doch unwirksam, weil es das System der halben Wehrhaftigkeit ist. Manche Staatsmänner und Militärs, wenn sie auch die Conscription als das Grundübel Europa’s erkennen, entschuldigen sie doch mit der Nothwendigkeit, gegen das Ausland gerüstet sein zu müssen. Dies ist schon deshalb grundfalsch, weil es den kleinern Staat der Gnade des größern preisgibt. Achtzehn Millionen müssen im technisch-militärischen Duell gegen sechsunddreißig den Kürzern ziehen. Aber auch bei gleichen Kräften ist oft der Kampf ungleich, wenn Geschicklichkeit und Uebung auf der einen Seite überwiegt. Der orientalische und der italienische Krieg haben wieder die alte Erfahrung glänzend bestätigt, daß die geschultesten Heere geschlagen werden können.

Unüberwindlichkeit gewährt einzig und allein das dritte System, dasjenige der vollen Wehrkraft, das Milizsystem. Die größtmögliche Steigerung der Vertheidigungskraft gegen freche Angriffe und Eroberungsgelüste besteht in der allgemeinen Bewaffnung und Wehrhastigkeit. Wo sie durchgeführt ist, da kann auch ein kleines Volk mit Glück der Uebermacht Widerstand leisten.

Staatsmänner und Militärs, welche sich über die alltäglichen Vorurtheile des Handwerks zu erheben verstanden, haben selbst das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_567.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)