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Uebergewicht der Milizheere über stehende Heere anerkannt. Der bewährte Kriegsmeister Radetzky erklärte: „Die zuverlässigste Stärke des Staats beruht auf zweckmäßig gebildeten Landwehren, und nur dadurch kann sich ein Volk unüberwindlich machen.“ Was der große Scharnhorst und seine edlen Genossen auf diesem Gebiete gedacht und geschaffen haben, bedarf keiner weitern Ausführung; ihrer volkstümlichen Wehrverfassung verdankte Preußen und Deutschland seine Befreiung aus schmachvollem Joche. Die ausgezeichnetsten Militärschriftsteller, wie Clausewitz, Valentini, Rüstow, haben auf’s Eindringlichste dem Milizsystem das Wort geredet.

Die Grundzüge des Milizsystems sind einfach, wie die Wahrheit immer ist. Die beste Vorstufe der allgemeinen Wehrhaftigkeit bildet die militärische Jugenderziehung in Verbindung mit dem Turnwesen; die militärische Ausbildung geht am leichtesten, raschesten und wohlfeilsten von Statten, wenn sie schon in der Jugendzeit beginnt. Die Einübung sämmtlicher Waffenfähigen mit jährlichen zeitweisen Uebungen liefert den unerschöpflichen Stoff des größtmöglichen Landesheeres. Zum Behuf dieser Einübung, sowie der Ausbildung guter Officiere und der Pflege der Kriegswissenschaft müssen oder können kleine ständige Kerne und Rahmen von freiwilligen Soldaten nebst Officieren unterhalten werden. Sobald ein Aufgebot erforderlich wird, werden die Rahmen von der bereits eingetheilten eingeübten Mannschaft ausgefüllt. Da aber bei einer volksthümlichen Wehrverfassung jeder Krieg sofort ein Volkskrieg wird, so muß auch der Landsturm zur Unterstützung des activen Operationsheeres in geeigneter Weise verwendet werden. Als sonstige Hauptbedingungen für glückliche Erfolge eines Milizheeres, seiner eigenthümlichen Natur entsprechend, betrachtet Schulz-Bodmer: im Anfange des Krieges vorsichtige Beschränkung auf die reine Vertheidigung; zeitige Befestigung der natürlichen Vertheidigungslinien des Landes; eine beschränkte Theilnahme des Volksheers an der Wiederbesetzung der im Kriege erledigten Führerstellen aus der Zahl der ihm als befähigt bezeichneten Candidaten, aber nur soweit das unmittelbare Interesse der Mannschaft reicht, also nicht über die Grenzen der Compagnie hinaus; möglichste Verstärkung des activen Volksheeres gleich im Anfang; volle und zweckmäßige Belohnung der Wehrmänner.

Soll die Raserei der Angriffskriege vermindert und beseitigt, der Krieg selbst ausgerottet werden, so kann dies einzig und allein bei allgemeiner Wehrhaftigkeit gelingen. Ein Schwert hält das andere in der Scheide, und wenn erst die Völker durchweg bewaffnet sind, werden sie sich nicht angreifen. Der letzte Krieg gegen den Krieg, bisher eine schöne Hoffnung, kann einmal lebensvolle Wirklichkeit werden.

Eben so aber, wie das Milizsystem das wirksamste Mittel zur Sicherung des äußeren Friedens ist, verbürgt es auch den innern Frieden. Das stehende Heerwesen oder das Systems mit der bewaffneten Minderheit die waffenlose Mehrheit im Zaum zu halten, ist eine ständige Beraubung des Volkes, eine Pflanzschule der Unzufriedenheit und Anarchie. Dagegen sorgt das eigene Interesse des bewaffneten Bürgers dafür, daß durch Milizen die innere Ordnung und Sicherheit weit besser aufrecht erhalten wird, als durch eine besondere Soldatenkaste. Die Freiheit ist eben die Voraussetzung und rechte Heimath des Milizsystems; wo die Bürger ihren vollen Willen auf gesetzlichem Wege zur Geltung bringen können, da wird die Ruhe nicht gestört, braucht also auch nicht wiederhergestellt zu werden. Das beweist die Schweiz mit ihrer republikanischen Bundesverfassung am anschaulichsten.

Würde in Europa das Milizsystem, wenn auch mit stehenden Rahmen, angenommen, so ließen sich die jährlichen Militärkosten von 670 Mill. Thlr. auf 162 Mill. vermindern. Dies betrüge statt 2,460,000 Thlr. auf jede Million Bevölkerung kaum 600,000 (immerhin noch 120,000 mehr als in der Schweiz, wo die Mannschaft nur zeitweise beisammen ist). Auf solchem Fuße hätte Europa in den letzten 45 Jahren (den jährlichen Durchschnitt der Militärkosten auf 500 Mill. Thlr. angenommen) eine Ersparniß von 17,100 Mill. Thlr. machen und jede Familie ihr Vermögen um 340 Thlr. vermehren können. Auf solchem Fuße würde jeder Staat mit dem vierten Theil der Kosten eine dreimal größere Wehrkraft zur Vertheidigung besitzen und könnte sich zugleich mit Durchführung der angemessenen wohlverdienten Belohnung der Truppen eine der kräftigsten Bürgschaften des Sieges verschaffen. Betrachten wir jetzt das Milizsystem in dem Lande, wo es bis jetzt am vollständigsten durchgeführt ist.

In vier Artikeln der Bundesverfassung sind die Grundlagen des schweizerischen Wehrwesens enthalten; auf ihnen ruht der Ausbau durch spätere Gesetze, hauptsächlich durch das vom 8. Mai 1850 über die Militärorganisation. Das monarchische Europa wird nicht eher zur Ruhe und Ordnung gelangen, bis es sich auf den Granitgrund der Freiheit stellt, wie ihn Artikel 13 der schweizerischen Bundesverfassung ausspricht: „Der Bund ist nicht berechtigt, stehende Truppen zu halten. Ohne Bewilligung der Bundesbehörde darf kein Canton oder in getheilten Cantonen kein Landestheil mehr als 300 Mann stehende Truppen halten, die Landjägercorps nicht inbegriffen.“

Die andern drei Artikel lauten:

„Art. 18. Jeder Schweizer ist wehrpflichtig.

Art. 19. Das Bundesheer, welches aus den Contingenten der Cantone gebildet wird, besteht:

a) aus dem Bundesauszug, wozu jeder Canton auf 100 Seelen schweizerischer Bevölkerung drei Mann zu stellen hat;
b) aus der Reserve, deren Bestand die Hälfte des Bundesauszuges beträgt.

In Zeiten der Gefahr kann der Bund auch über die übrigen Streitkräfte (die Landwehr) eines jeden Cantons verfügen. Die Mannschaftsscala, welche nach dem bezeichneten Maßstabe das Contingent für jeden Canton festsetzt, ist alle zwanzig Jahre einer Revision zu unterwerfen.

Art. 20. Um in dem Bundesheere die erforderliche Gleichmäßigkeit und Dienstfähigkeit zu erzielen, werden folgende Grundsätze festgesetzt:

1) Ein Bundesgesetz bestimmt die allgemeine Organisation des Bundesheeres.

2) Der Bund übernimmt:

a) den Unterricht der Genietruppen, der Artillerie und Cavallerie, wobei jedoch den Cantonen, welche diese Waffengattungen zu stellen haben, die Lieferung der Pferde obliegt;
b) die Bildung der Instructoren für die übrigen Waffengattungen;
c) für alle Waffengattungen den höhern Militärunterricht, wozu er namentlich Militärschulen errichtet und Zusammenzüge von Truppen anordnet;
d) die Lieferung eines Theiles des Kriegsmaterials.

Die Centralisation des Militärunterrichts kann nöthigenfalls durch die Bundesgesetzgebung weiter entwickelt werden.

3) Der Bund überwacht den Militärunterricht der Infanterie und der Scharfschützen, sowie die Anschaffung, den Bau und Unterhalt des Kriegszeugs, welches die Cantone zum Bundesheer zu liefern haben.

4) Die Militärverordnungen der Cantone dürfen nichts enthalten, was der eidgenössischen Militärorganisation und den den Cantonen obliegenden bundesmäßigen Verpflichtungen entgegen ist, und müssen zu diesfälliger Prüfung dem Bundesrathe vorgelegt werden.

5) Alle Truppenabtheilungen im eidgenössischen Dienste führen ausschließlich die eidgenössische Fahne.“

Demnach hat weder die Schweiz, noch ein einzelner Canton ein stehendes Heer; auch Baselstadt hat vor vier Jahren seine Standestruppe aufgelöst. Soldaten und Officiere werden im Frieden jährlich auf kurze Zeit zu Uebungen einberufen. Ständig besoldet ist blos eine kleine Anzahl von Verwaltungsbeamten und Instructoren. Dennoch geht jede Mobilmachung rasch vor sich, rascher sogar als in den meisten Monarchien. In Wahrheit hat also auch die Schweiz ihr stehendes Heer; nur wird es nicht unnütz beschäftigt und bezahlt, solange keine Arbeit vorliegt. Während in den Staaten mit stehenden Heeren die Operationsarmee höchstens 11/2 Procent der Bevölkerung erreicht, beträgt sie in der Schweiz das Drei- und Vierfache. Alle Dienstfähigen werden militärisch ausgebildet; Stellvertretung ist nicht gestattet, und die Ausnahmen von der Wehrpflicht sind auf die dringendsten Fälle beschränkt. Das gesetzliche Minimum für Auszug und Reserve wird in vielen Cantonen überschritten, so daß eine ziemliche Menge Ueberzähliger vorhanden ist. Alle Wehrkräftigen, die nicht in jenen beiden Abtheilungen und in der Landwehr dienen, bilden den Landsturm.

(Schluß folgt.)



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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 568. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_568.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)