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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Frohn kam beim Anblick dieser Blätter augenblicklich der Gedanke, daß er eines derselben vortrefflich werde verwenden können. Er nahm deshalb eines der Blankets an sich, faltete es zusammen und verbarg es auf der Brust; dann eilte er in den Alkoven zurück, warf rasch Uniform und Flügelrock wieder an, und schlüpfte zu der Tapetenthüre hinaus; durch den schmalen Gang, durch das Garderobegemach, durch den daraufführenden Corridor erreichte er die cassirte Thüre wieder, und nachdem er sie hinter sich zugezogen und draußen seine Hellebarde ruhig dastehend gefunden, trat er tiefaufathmend und um einen bedeutenden Theil seiner Spannung erleichtert seinen Postendienst wieder an.

Um einen bedeutenden Theil, sagen wir, denn so gut sein rasch gefaßter und keck durchgeführter Plan so eben gelungen, und so gewiß in diesem Augenblick die gestrenge und ihren erwachsenen, mit der königlichen Würde bekleideten Sohn wie einen Knaben beaufsichtigende Kaiserin die zufriedenstellende Meldung empfing, daß der letztere sich in seinen Gemächern befinde und bereits zur Ruhe zu gehen im Begriffe stehe, so schwer bedrückte unsern Freund doch immer noch die Sorge, ob der König sein Wort halten und zur rechten Zeit zurückkehren werde.

Er hatte das Versprechen gegeben. Er wollte vor der Ablösungsstunde wieder da sein. Aber König Joseph, darauf hätte der Arcier einen gestabten Eid geschworen, befand sich in diesem Augenblicke gewiß nicht in der Stimmung, so genau wie unsere Schildwache auf das Schlagen der Uhren Acht zu geben. Ja, dieser fatale und höchst störende Ton machte in dieser Stunde ohne allen Zweifel schon aus schuldiger Rücksicht und Respect nicht einmal einen Versuch, in das trauliche Hinterstübchen in der Vorstadt zu dringen, und wenn er wirklich so unausstehlich vorwitzig war, dann hieß es auch da Wohl: „it is the nightingale and not the lark!

Der Posten vor der cassirten Thüre mochte erst seit wenigen Minuten wieder ordnungsmäßig bezogen sein, als die Glocke der Burg schon ein Viertel auf zwölf verkündete. Frohn warf bei seinem Auf- und Niederschreiten die Hellebarde bald auf die eine, bald auf die andere Achsel. Als es halb zwölf schlug, kam es ihm vor, als hätte die Glocke ordentlich einen boshaften und spöttischen Klang angenommen und die zwei Schläge mit einem erschrecklichen und ganz ungewöhnlichen Getöse bis in jeden entferntesten Winkel der großen Hofburg geworfen.

Und dann schlug sie drei Viertel auf zwölf, sie war so entsetzlich rasch damit bei der Hand, daß der Arcier glaubte, er höre noch den Nachhall von halb zwölf in seinen Ohren zittern, und nun schlug diese entsetzliche Uhr bereits drei Viertel auf Mitternacht!

Um Mitternacht pünktlich kam die Ablösung. Ein anderer Arcier bezog den Posten, ein alter dienststeifer Kriegsknecht, der, wenn der König heimkehrend auf ihn stieß, Lärm schlug und Alles zur Sprache brachte – Frohn war dann verloren.

Vielleicht schlug die Glocke zu früh; vielleicht war sie in ihrem Laufe der Zeit voraus. Aber nein, dies war ein Gedanke, an den nur die Verzweiflung sich klammern konnte; er war völlig chimärisch, er war beleidigend für die alte Thurmuhr auf der Hofburg zu Wien, die niemals zu rasch gegangen, die niemals der Zeit voraus gewesen ist.

In der That, von Sanct Stephan schlug es gleich nachher gerade eben so viel. Und von den andern Thürmen und Thürmchen der großen Kaiserstadt ebenfalls. Frohn hatte noch niemals bemerkt, daß so viel Thurmglocken in Wien sein, und daß sie ein so furchtbares Getöse machten, wenn sie die Viertelstunden schlügen. Dann hatten sie ausgeschlagen, auch der Klang der letzten war zitternd verhallt, Frohn’s Herz klopfte immer höher, er glaubte schon die Burgglocke wieder zum neuen Schlage ausholen zu hören, und wahrhaftig, dies Qualgebilde einer dämonischen Erfindungskraft fing sein Rasseln wieder an – es hob aus.

Da unterbrach ein andrer Ton die Todtenstille in dem weiten Gebäude: es waren Schritte: nicht die Schritte der fernen Schildwachen auf ihren Posten; es waren flüchtige, leise, heraneilende, fliegend fast; und etwas Weißes leuchtete am Ende des Ganges auf – der weiße Mantel flatterte; er war da, er winkte Frohn wie grüßend oder dankend mit der Hand. Frohn hatte die Thüre schon geöffnet – hinein flog der weiße Mantel, und Schloß und Riegel klirrten im Innern.

Tief aufathmend stand der Arcier.

„Gott sei gedankt!“ sagte er mit einem aus der tiefsten Seele kommenden Stoßgebet. Und nun ließ er die Glocke schlagen; nun ließ er sie schlagen alle durcheinander, nach Herzenslust, groß und klein, dumpf und hell und heiser, sie konnten gar keinen so disharmonischen Lärm hervorbringen, daß es ihm nicht plötzlich wie eine tolle Tanzmusik ganz lächerlich heiter um die Ohren geschwirrt hätte.

Die Ablösung kam schweren Schrittes heran.

„Alles in Ordnung, Herr Vice-Second-Wachtmeister!“ meldete Frohn und ließ seinem Nachfolger den Posten.


5.

Um zwei Uhr nach Mitternacht wurde der Posten vor der cassirten Thüre eingezogen. Frohn hatte noch zwei Mal an andern Stellen in der Burg zu schildern, dann war die Mittagsstunde des folgenden Tages da, und mit ihm das Ende des Nachtdienstes.

Eine Viertelstunde später saß Frohn in seiner Wohnstube in der Vorstadt Mariahilf; vor ihm lag das Blanket, und den Kopf auf den Arm gestützt starrte der Arcier nachsinnend die weiße Fläche an. Endlich, mit einem raschen Entschluß, ergriff er die Feder.

„Es geht nicht anders,“ sagte er, und nun schrieb er mit seiner schönen und deutlichen Copisten-Hand einige Zeilen darauf nieder, streute Sand darauf und überlas das Blatt. Der Inhalt lautete jetzt wie folgt:

„Wir Joseph, Erwählter Römischer König, Erzherzog von Oesterreich, Königlicher Prinz von Hungarn und Böheim etc. etc.
haben zur Anerkennung uns geleisteter Dienste und wegen besondren Wohlverhaltens dem k. k. Arcieren-Leibgardisten Joseph von Frohn das Kreuz eines Gnadenritters des toscanischen Sanct Stephans-Ordens verliehen und geben demselben darüber diese vorläufige Urkunde bis dahin, daß von unsres Kaiserlichen Herrn Vaters Majestät und Liebden, als höchstem Ordensmeister, das von uns beantragte Ernennungs-Diplom unterfertigt und herabgelangt sein wird.
Joseph, R. König, m. pr

Mit diesem Schriftstück bewaffnet, verließ Frohn ohne Säumen seine Wohnung wieder. Auf dem Hausflur unten gab ihm die Magd einen Wink.

„Das Demoiselle Thereserl verlangt gar gewaltig nach dem Herrn von Frohn,“ flüsterte sie.

„In einer Stunde komme ich zurück,“ versetzte der Arcier, „dann steh’ ich zu Dienst.“

Er verließ das Haus, wandte sich der inneren Stadt zu und suchte das Gebäude der Polizei-Verwaltung auf. Seine rothe Arcieren-Uniform öffnete ihm hier die Thüren. Da man einen Boten vom Hofe in ihm erblickte, so ließ das gestrenge und sonst keinesweges zuvorkommende Dienstpersonal, welches er in dem ersten dieser verhängnißvollen und unheimlichen Räume antraf, sich so weit herab, ihm auf alle seine Fragen Antwort zu geben, und kurze Zeit darauf stand er in einer verräucherten, dunklen, mit Acten bis an die Decke erfüllten Stube, in welcher ein kleiner, gelb und zornig aussehender Mann eben seine Schreibärmel auszog und sich zum Fortgehen anzuschicken schien.

„Was gibt’s? was wollen’s noch? ein Uhr thut’s schlagen, eh’ ich a Paternoster hersag – und a Ruh will ich hab’n,“ fuhr er Frohn und den Beamten, der ihn geführt hatte, an.

„Ich bin an ein verdrießliches Subject gekommen,“ dachte unser Freund, indem er den graugelben Actenmann betrachtete, der aussah, als wäre er der letzten großen Generaleinstampfung älterer Actenbestände nur entgangen, um bei der nächsten berücksichtigt zu werden.

„Ich höre,“ nahm Frohn das Wort, „Euer Gnaden sind der Polizeirath für das Criminale?“

„Nun ja, was schwätzen’s noch davon, was hab’n’s?“

„Es schwebt eine Untersuchung gegen einen jungen Menschen, der Franz Fellhamer heißt, wegen Diebstahls – man hat bei ihm ein Ordenskreuz gefunden, und dies Kreuz ist zu den Acten genommen.“

Der Polizeirath für das Criminale nahm eine Prise, um seine Ungeduld zu beschwichtigen.

„Wird schon so sein,“ sagte er.

„Dies Kreuz gehört mir, und ich komme es zu reclamiren.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_594.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)