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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

und die Mutter hatte sogar die Dreistigkeit, sie im Zimmer der Königin vorzustellen! – – –

Wir erzählen dieses Factum, wie die ganze vorhergehende Geschichte, nicht, um unterhaltend oder pikant sein zu wollen – wir hielten vielmehr ein Blatt aus der Geschichte jener „galanten“ Zeit unsern Lesern vor, um ihnen zu zeigen, wie die Sitten- und Charakterlosigkeit eines einzigen Mannes, den die Vorsehung auf einen Thron berufen und ihm das Wohl und Wehe eines ganzen Volkes anvertraute, im Stande war, dieses Volk, wie ein ganzes Jahrhundert zu entwürdigen, sodaß jener Kurfürst von Baiern nicht ohne Grund der „geputzten sächsischen Männerchen“ spottete, welche er mit seinen rauhen Cuirassieren zu Paaren trieb. Ohne sich nur einer Grausamkeit bewußt zu sein, wurden Menschen [1] und Thiere zu Tode gehetzt; ohne das Ende einer solchen Wirthschaft zu bedenken, wurden oft Millionen für ein einziges Fest ausgegeben; ohne der Stimme der Vernunft und des Gewissens Gehör zu geben, griff man mit frecher Hand in die heiligsten Familienrechte oder zertrat an der Seite üppiger Weiber den letzten Funken von Sitte und Ehrgefühl.

Das war, wie Freiherr von Pöllnitz sich ausdrückt, das „galante Sachsen“, dessen traurige Spuren sich selbst bis auf den heutigen Tag nicht ganz verwischen lassen. Die redlichste Sparsamkeit der späteren Fürsten dieses Landes konnte in einem Jahrhundert nicht ersetzen, was jener Fürst in wenigen Decennien verschleuderte. Außer einem bis auf’s Aeußerste zerrütteten Lande hinterließ er ihnen nichts, als eine Anzahl Schlösser und Kunstschätze, die wie Oasen aus jener Wüstenei herüberschauten.

(Schluß folgt.)




Die Preßnitzer Harfnerin.
Auch eine culturhistorische Studie.

Wer hat sie nicht schon gesehen, die Mädchen mit dem bleichen, zerstörten Antlitze hinter den tönenden Harfen, wenn sie im hellerleuchteten Saale saßen und gedankenlos die hübschen Liedchen abtrillerten, die ihnen zu Hause ein gefälliger Freund oder Bruder lehrte? – Wer hat die Leipziger Messe, die Vogelschießen in Mittel- und Norddeutschland, die Seebäder und Café’s der größern Städte besucht und nicht hinüber geschielt nach den schlanken schwarzhaarigen Gestalten, die sich hinter den hohen Saiteninstrumenten in koketter Haltung singend und spielend bewegen und die Herzen der Zuhörer zu rühren hoffen mit ihren: „Ach, wenn Du wärst mein eigen!“? Es sind schöne, liebe Kinder darunter, dunkle, seelenvolle Augen, die viel Unglück anstiften können, aber auch viele verblühte, abgelebte und zerrissene Gesichter, auf deren Teint selbst der schäumende Champagner oder der heiße Grog keine Frühlingsblüthen mehr hervorzuzaubern vermögen. Ihr Alle kennt sie und habt ihnen wohl auch zugelächelt, wenn sie mit dem Teller in der Hand den Lohn sammelten für ihre schmelzenden Liebeslieder, aber nur Wenige von Euch werden wissen, daß eine kleine böhmische Bergstadt, Preßnitz, die meisten dieser singenden und spielenden Mädchen liefert, wenn auch andere Ortschaften des sächsischen und böhmischen Erzgebirges noch manches hübsche Kind auf das verlockende Saitenspiel einüben. Es ist ein eignes interessantes Völkchen, was da jährlich ausfliegt in alle Welttheile, und es lohnt sich schon der Mühe, den Lesern der Gartenlaube zu erzählen, aus welchen Anfängen diese seidenbehangenen Vöglein hervorgingen. Sind doch die Wege ihrer Künstlerschaft vielfach durchkreuzt und mannichfaltig! Ueberall ziehen sie hin: die Leipziger Messe, die norddeutschen Seebäder, Friesland und das mächtige Rußland sind die ersehnten und lohnenden Ziele für sie, und über Ungarns Pußten sieht man sie nach den magyarischen Edelsitzen, die Bessern nach den Concertsälen Rußlands, manche sogar nach Tiflis bis in den asiatischen Orient wandern. Dort lassen sie in der Nähe des Grabmals des Sänger-Fürsten David, der die Harfe so wundervoll gerührt, und an der Stelle, wo die Väter Juda’s ihre schweigenden Harfen an die Weidenbäume gehängt, die Saiten von den Heimathsklängen eines deutschen Walzers ertönen oder schmettern mit heller Stimme hinaus: „Ist denn goar ka Weg, is denn goar ka Steg“ etc. etc.

Wodurch aber nun wurde diesen Geschöpfen der unwiderstehliche Trieb eingeimpft, mit ihrem Stimmchen und mit ihren nothdürftigen Griffen auf der Harfe bis an die Enden der Welt zu dringen? – Wer lehrte sie zuerst Sang und Saitenspiel? wann werden diese lustigen Singvogel flügge, und wann kehren sie heim? Waren ihre Wege gesegnet oder endeten sie im Unglück? – Diese Fragen sind kurz zu beantworten.

Musik lebt wie ein tiefeingewurzelter Naturlaut in den Bergen, die Gabe des Gesangs muß sich unaufhaltsam offenbaren. Daß aber Musik zum Erwerbe wird, und noch obendrein die der Harfe – dazu ist eine äußere zwingende Macht vorauszusetzen nothwendig. Wie im Erzgebirge die Noth – die Mutter vieler anderer Fertigkeiten und Wissenschaften – so war sie es auch, die den Sang und das Saitenspiel lehrte, nachdem die Reichthümer von Böhmens Altcalifornien auch in den Preßnitzer Bergwerken versiechten. Man suchte das schwindende Silber der Heimathsberge in den Stimmen, und die es thaten, kehrten auch mit versilberten Kehlen heim. Zunächst war es wieder ein Weib, welches sich zu Barbara Elterlein, der verehelichten Uttmann – dem rettenden Engel des Erzgebirges – gesellte, welche den Klöppel in die Thäler trug. Dieser weibliche Genius von Preßnitz hieß Elisabeth Enzmann und war die Tochter des Schullehrers Enzmann aus dem eine Viertelstunde von Preßnitz entfernten Dörnsberg, sie war die Meisterin und Lehrerin des Sanges und Saitenspieles geworden, und zwar um die Jahre 1780–1790. Seltsamer Weise hießen sie Uttmann und Enzmann – diese beiden Weiber mit männlicher That.

Die Kunst, mit der die Enzmann (unter dem Volke als „Sing-Anne-Lis-Mydl“ bekannt) sang und die Harfe bewältigte, erregte die Bewunderung und den Eifer der Nachahmung in nächster Umgebung. Alsbald hatte sich ein kleiner Kreis von Mädchen gebildet, die bei ihr die Lehre antraten. Diese ersten Harfnerinnen hatten Methode und musicirten mit Weihe, ihre Anfänge bezeichnen nicht allein das goldene Zeitalter der Preßnitzer Musik, sondern sie erfreute sich dazumal auch eines goldenen Bodens. Zunächst war es die Alexander-Lise, welche durch Schönheit der Gestalt und durch Kunst des Gesangs nicht blos die Achtung besseren Publicums sich errungen, sondern auch die Gnadenblicke dreier Monarchen im Jahre 1813 zu Kommotau an sich zog. Ein hoher Gönner wollte sie für die Oper einer Residenzstadt gewinnen, wohin sie auch für eine Zeit lang zugereist war; das unüberwindliche Heimweh nach dem alten Thale trieb sie aber sehr bald wieder zurück, obgleich sie dem Gesange nicht verloren ging und wiederholt sich auf Sängerfahrten begab. Unnachahmlich sang sie jene Lieder, welche durch Harfnerinnen später eben so volksthümlich wurden.

Ihre Kunst umgab sie auch mit ewiger Jugend, indem sie noch i. J. 1850 – relata refero – im vollen Besitz ihrer Stimme vortrefflich gesungen haben soll. Andrerseits schätzte man sie auch in der Heimath, wohin sie feinere Sitte übertrug, als unumschränkte Herrscherin des Anstandes bei Festgelagen und Tänzen, wenn die Gesellschaft ein unmäßiger Geist zu bedrohen anfing. Ein Augenwink von ihr genügte, das Völklein in Ordnung zu bringen.

Ihre Verpflanzung des Harfenspiels und Sanges nach Preßnitz ward vorzüglich nach dem Jahre 1811 von großer örtlicher Bedeutung. Bis dahin lag das nette, reine, waldumgürtete, vom Kupferberge vor Stürmen geschützte Bergstädtchen ungefährdet da, bis ein verheerender Brand den größten Theil der Stadt im Jahre 1811 zu Schutt und Asche verwandelte und mehrere hundert Familien vermögens- und obdachlos machte. Nun war die Stunde gekommen, die bewährte, in der die Fabel wahr werden sollte, daß Arions Sang Steine bewegte und die Leyer Apoll’s Mauern emporsteigen ließ. – Die Töchter von Preßnitz strömten nun mit einer Art natürlicher Begeisterung in die Welt und sangen und rührten um ihrer Eltern willen. Mit gefüllten Börsen kehrten sie heim und hoben das Heimathsstädtchen mit ihrer Hülfe allmählich

  1. Wir erinnern hierbei an die „Läufer“, welche oft Stunden lang vor dem Wagen einhertraben mußten, und von denen einige mitten im Laufen todt zusammenbrachen.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_638.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)