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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

höher haltend, fort, „und ich werde morgen so gewiß von der Farm gehen, als es für eine Waise, die arbeiten will, wohl noch einen andern Schutz geben wird!“

Er sah ihr einen Augenblick ungewiß in das blitzende Auge und ließ dann langsam seine Hände von ihren Armen gleiten.

„Ich habe Dir nichts zu Leide thun wollen, Mary,“ sagte er sichtlich herabgestimmt, „wenn Du aber meine Schwester sein willst, warum thust Du so stolz, daß es mich böse macht, und warum gehst Du mir aus dem Wege oder thust, als sähest Du mich nicht?“

Sie hielt den Blick wie im stillen Forschen auf sein Gesicht geheftet. „Soll ich Dir etwa noch freundlich für Dein höhnisches Gebahren danken?“ erwiderte sie nach einer kurzen Pause. „Was habe ich armes Mädchen Dir gethan, daß Du mir so begegnest?“

„Mary,“ sagte er eifrig, „warst Du es nicht zuerst, die mich von oben herab behandelt hat? Bist Du nicht überall mir aus dem Wege gegangen, als wäre ich für Dich nicht da – ich, Dein Bruder?“

„Du hast mich wie ein Bruder behandelt, Heinrich? Hast Du mich nicht stets verfolgt mit harten, höhnischen Worten, als ich zu Euch kam als Wildfremde – wenige Tage darauf, nachdem ich meinen armen Vater begraben und meine Seele noch wund und zerrissen war von meinem unsäglichen Unglück? Sollte ich da auf Alles das eingehen, was Du einen Spaß nennst?“ sagte sie, und mit jedem Worte klang es mehr, als mache sich eine lang unterdrückte Stimmung Luft. „Du kannst Dir wohl gar nicht denken, wie so einer Waise zu Muthe ist, und wie sie behutsam angefaßt sein will, wenn ihr nicht Alles weh thun soll, und wie sie sich verschließt, wenn sie keine Liebe findet, und jedem schlimmen Worte ängstlich aus dem Wege geht –“

„Aber ich habe Dich lieb – weiß Gott, ich habe Dich lieb!“ unterbrach sie der Bursche, auf’s Neue ihre Arme fassend. „Ich habe mich geärgert über Dein stolzes Behaben – jetzt aber mußt Du mich wieder lieb haben, Mary!“

Sie wand leicht ihre Arme aus seinen Händen. „Sei Du nur nicht böse und herzlos,“ sagte sie, als suche sie ihre eben ausgebrochene Bewegung zu unterdrücken, „und ich werde auch noch lernen, anders zu sein!“

Sie drehte sich weg und schritt dem Walde zu. Heinrich folgte ihr mit den Augen, zog dann die Stirn kraus und schlug mit der rechten Faust in die linke Hand. „Sie wird doch nicht anders, ich weiß es schon!“ sagte er und wandte sich langsam dem hingeworfenen Kühfutter wieder zu.

Von da ab stellte sich indessen zwischen Beiden ein anderes Verhältniß als bisher heraus. Blieb auch Mary ihrem Wesen im Allgemeinen treu, so schien sie doch immer einen freundlichen Blick für Heinrich zu haben, der, als könne er sich ihrem Einflusse nicht entziehen, sich ein Geschäft in ihrer Nähe machte, sobald er nur das Haus betrat, oft aber auch finster ihr nachschaute, wenn ein Zufall sie hinderte, ihn zu bemerken. Gesprochen ward wenig zwischen Beiden.

So gingen Spätsommer und Herbst mit ihren Arbeiten hin. Der alte Kreuzer, dessen Blicke oft mit großer Theilnahme auf dem Mädchen ruhten, fühlte sich unwillkürlich zu ihr hingezogen und zeigte dies ganz offen dadurch, daß er sie stets auf seinen Ausflügen nach dem benachbarten Marktflecken mitnahm und sie den dort eingetroffenen Nachbarfamilien vorstellte. Mit dem Englischen war Mary in den sechs Monaten, welche sie bereits auf der Farm verbracht, eben so wunderbar schnell vertraut geworden, als sich unter der steten Arbeit und Bewegung ihr Körper überraschend entwickelt hatte. Ihre feinen magern Glieder begannen an Fülle zu gewinnen, ihre zerbrechliche Gestalt hatte eine kräftige Elasticität angenommen und ihr Gesicht sich zu einem blühenden feinen Oval gerundet. Und sah man ihren Händen auch wohl an, daß sie die Arbeit kannten, so hatte doch selbst diese deren Zierlichkeit nur wenig Eintrag thun können.

Die erste wehe Rückerinnerung, die Mary trotz aller errungenen Selbstcontrole nicht zu überwinden vermochte, kam ihr, als schon längst der Schnee die Felder deckte und der Weihnachtsabend niederdämmerte. Seit der eingetretenen Kälte waren die sämmtlichen Hausbewohner einen großen Theil des Tages und den vollen Abend auf das Familienzimmer angewiesen, und das Mädchen hatte schwer ihre gewohnten Streifereien in’s Freie vermißt, die ihr sonst immer das rechte Gleichgewicht mit sich selbst wiedergegeben. Sie hatte Wolle spinnen lernen, hatte ihre ganze Geschicklichkeit im Nähen zusammengesucht, um der Frau bei Instandsetzung der Leih- und Hauswäsche behülflich zu sein; trotz der emsigen Arbeit aber lag es an manchem Abende wie ein Alp auf ihr, wenn der alte Kreuzer, langsam die Tabakswolken von sich blasend, schweigend im Schaukelstuhle saß und stundenlang vor sich Hinblicken konnte, ohne sich kaum einmal zu rühren; wenn Heinrich, die Stuhllehne gegen die Wand gelehnt, in lauten Tönen schnarchte, die Magd neben dem großen Kamin nickte und das trübe brennende, von der Frau selbst gegossene Talglicht die geräuschlose Arbeit in ihren und der Hausmutter Händen beleuchtete. Und als nun der Weihnachtsabend kam, ohne daß die gewohnte Ordnung sich in einer andern Weise zu ändern schien, als daß die Magd einen wilden „Turkey“ (Truthahn), den Heinrich geschossen, zu rupfen bekam und Kreuzer sich mit der Bemerkung in den Schaukelstuhl setzte, daß er morgen, um auch einmal Christmeß zu feiern, bei Zeiten in die Stadt gehen werde, und wer mit wolle, seine Festtagskleider heute noch zurechtlegen solle, da tauchten in Mary’s Seele alle frühern Bilder selig verbrachter Weihnachtsabende auf – ihres Vaters Gesicht, als er sich niedergebogen und das beschenkte Kind geküßt, trat vor sie, und auf ihr Herz begann es sich immer schwerer wie ein drückendes Gewicht zu legen, daß sie endlich meinte, ersticken zu müssen, wenn sie sich nicht ausweinen dürfe. Geräuschlos erhob sie sich und verließ das Zimmer. Neben der Kammer der Magd, im hintern Giebel des Hauses, war ihr eine kleine Stube eingeräumt worden. So lange das Haus stand, war freilich noch nie hier geheizt worden, und auch jetzt herrschte eine eisige Luft darin, welche durch den klaren hereinfallenden Mondschein fast noch kälter zu werden schien. Mary aber, die dorthin geeilt war, schien nicht darauf zu achten, setzte sich auf ihr Bett und legte das Gesicht in beide Hände. Den Kopf in das Kissen gedrückt weinte sie heftig und lange.

Als sie sich endlich wieder erhoben hatte, ging sie nach ihrem Koffer, kniete dort nieder und nahm zwischen ihrer Wäsche die wohlverwahrte Uhr ihres Vaters und dessen Handschuhe, welche er bis zum Tage seiner Krankheit getragen, heraus und drückte Beides an ihre Lippen. „Mein Vater – mein lieber Vater!“ schluchzte sie laut. Dann barg sie die Erinnerungszeichen an ihren frühern Ort, schloß den Koffer, trocknete sorgfältig ihr Gesicht und ging so lautlos, als sie gekommen, nach dem untern Zimmer zurück, wo ihre Abwesenheit kaum bemerkt worden war. Nur des alten Farmers Blick haftete lange auf ihr, als sie das verweinte Gesicht tief auf ihre Näherei bog.

Als später Mary mit einem „gute Nacht, Mutter!“ der Frau die Hand gereicht und zu dem Farmer trat, hielt dieser ihre Finger einen Augenblick fest. „Es wird morgen wenigstens eine Abwechselung geben,“ sagte er, ihr aufmunternd in die verweinten Augen sehend, „im Uebrigen soll man sich aber nicht so viel Gedanken um verlorene Dinge machen, es nimmt den Muth, Kind, und wenn man auch noch so ein tapferes Herz hat.“ Sie zwang sich ein Lächeln ab, und er legte mit einem befriedigten Kopfnicken die Hand auf ihr Haar. „Jetzt geh und verdirb Dir in der Nacht nicht den Spaß für morgen!“

Es war am Abend darauf, als Kreuzer’s Schlitten, der kaum mehr war, als ein viereckiger Kasten auf rohe, selbstgezimmerte Kufen gesetzt, aus der Stadt zurückkehrte. Konnte auch Mary, die in eine wollene Pferdedecke gehüllt neben dem Farmer saß, von großem Vergnügen, welches sie gehabt, nicht reden, so hatte doch das Neue einer amerikanischen Weihnachtsfeier, das Schießen und Tollen der Jugend auf der Straße, das Treiben der umherwohnenden Landbevölkerung, welche sich eingefunden, die zahllosen komischen Scenen, welche whiskeyselige Menschen dargestellt, sie aus dem Ueberrest ihrer trüben Stimmung gerissen.

Anders war es mit Heinrich, welcher den Vordersitz eingenommen hatte und die Pferde lenkte. Er hatte nicht allein Staat mit seiner schönen, städtisch geputzten Schwester gemacht, er hatte auch zum ersten Male den erwachsenen Burschen gespielt und öfter im Glase Bescheid gethan, als es für sein rasches Blut gut sein mochte. So ließ er denn die beiden Pferde nach Herzenslust laufen, jauchzte auf, wenn bei einer raschen Biegung der aufgerissene Schnee den Schlitten überschüttete, und erwiderte die einzelnen Worte des Alten, der ebenfalls in bester Laune zu sein schien, mit derben Witzen.

So lange die Straße zwischen freien Feldern hinführte, ging Alles vortrefflich. Der rasche Flug gewährte selbst dem Mädchen ein eigenthümliches Vergnügen; als aber der Weg nach der Farm abbog und sich nach dem Wald hinüberwand, begann erst der Schlitten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_642.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2018)