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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

herabsinkt, welche vermöge größerer Wärmemenge die im Frost gebundenen Wasseratome theilweise lösen und die ganze Flocke durchfeuchten.

Ganz anders verhält sich’s mit dem Hochschnee. Der erste Blick schon zeigt ein ganz anderes Gebilde. Er ist viel feiner, mehliger oder eigentlich sandähnlich, trockener und darum selbstständig beweglicher. Theils zeigt er unterm Mikroskop blos prismenförmige Nädelchen, oder unendlich kleine, aber compacte keilförmige, sechskantige Pyramiden, theils aber stellt er sich auch in einer mehr der sphärischen Gestalt annähernden Weise dar, und zwar so, daß er einen kugelförmigen centralen Körper zeigt, an dem, ähnlich der mittelalterlichen Waffe des Morgensternes, kleine Spitzen nach allen Radien hin ausstrahlen. Daß solch ein seinem Umfange nach kleinerer, wahrscheinlich auch dichterer und darum schwererer Körper in ganz anderem Geschwindigkeitsmaße die Luft durchschneiden kann und darum bewegungsfähiger ist, wenn der Wind ihn treibt, als die netzförmig breite, viel mehr Raum einnehmende Schneeflocke, ist begreiflich.

Vermöge seiner Feinheit profilirt der Hochlandsschnee aber auch die Gegenstände, auf die er fällt, viel feiner, zeichnet deren Contouren viel detaillirter und schließt den kleinsten Formgebilden sich ungemein schmiegsam, – gleichsam nur bestäubend an, wo die volle, flaumige Schneeflocke des Tieflandes in großen behäbigen Linien, oft ziemlich schwerfällig, die beschneiten Gegenstände zudeckt. Diese subtilen Candirungen kann man indessen nur im Herbste, namentlich an Kräutern, verdorrten Samen-Dolden und an den kleinen zierlichen Kryptogamen der Alpenpflanzen wahrnehmen, wenn die Atmosphäre ihre Anfangsversuche im Bestäuben mit gleichsam gefrorenem Nebel macht. Dieses leichte Beschneien ist nicht zu verwechseln mit der auch im Hügel- und Flachlande vorkommenden verwandten Erscheinung des sogen. „Duft“ oder „Pick“, welcher Pflanzen, Steine und andere Dinge krystallisirend überkleidet, wenn dichter Nebel bei tiefer, unterm Gefrierpunkte stehender Temperatur über einer Landschaft lagert.

Es soll nun keineswegs behauptet werden, daß unter allen Umständen die Bildung von Flockenschnee in den Hochalpen unmöglich sei. Vielmehr versichert der bekannte schweizerische Bergsteiger, Herr Weilenmann, daß er während seiner Besteigung des Grand Combin am 10. August 1858 bei einer Höhe von circa 12,000 Fuß über dem Meere und bei einer Temperatur von 6 Grad Wärme in ein dichtes Schneegestöber des dicksten, schwersten Flockenschnees gekommen sei.

Bei der ungemeinen Feinheit der einzelnen Körperchen des Hochschnees ist es aber auch vornehmlich deren große Trockenheit, welche sie auszeichnet. Diese ist Folge der in den oberen Regionen während des ganzen Jahres fast ununterbrochen herrschenden niederen Temperatur. Im normalen Zustande ist der Hochschnee so spröde, so abgeschlossen eigenkörperig, daß er ohne kräftige Wärmeeinwirkung sich eben so wenig zusammenballen läßt, wie eine Handvoll trockenen feinen Sandes.

Mit diesem Material treibt nun der Wind auf den Höhen und in den Einsattelungen des Gebirges, welche 5000 Fuß übersteigen, sein mehr als übermüthiges Spiel, packt plötzlich einige Hunderttausend Kubikklaftern dieses feinen Eisstaubes, wirbelt ihn spielend hoch, hoch in die Lüfte empor, und überläßt es der dort herrschenden Windrichtung, ihn wieder in Form des dichtesten Schneefalles oder zerstreut als glitzernden Eisnadel-Regen abzuschütteln, wo es ihm beliebt. „Der Montblanc raucht seine Pfeife,“ sagen die Thalleute von Chamonny, wenn’s von der Schneekuppel dieses höchsten europäischen Berges bei hellem, tiefblauem Himmel wie Dämpfe aufsteigt und leise verweht wird. Oder der Wind, in seinem radicalen Fegen über die alten Firnwüsten, hebt irgend eine ihm nicht am rechten Platze liegende Ladung solch trockenen Hochschnees auf und schleudert ihn unversehens in tiefere Bergbecken oder Uebergangspunkte, während wenig Minuten Schneebatterien und Querdämme aufbauend oder mühsam ausgeschaufelte Hohlwege nivellirend, wozu eine Arbeiter-Compagnie tagelange Zeit bedurft haben würde. Darum läßt sich auch zwischen diesen bösartigen Neckereien des Windes und dem Fall der eigentlichen „Staublawinen“ oft keine bestimmte Grenze ziehen, weil die Wirkungen des Einen fast jenen der Anderen gleichkommen.

Aber alle diese tollen Luftmanöver sind nichts weniger als eigentliche Schneestürme; der Charakter dieser fürchterlich tobenden Erscheinung ist weit wilder, zorniger, feindseliger. Wehe dem armen Wanderer oder Roßtreiber, der in eine heftige „Tormenta“ – wie der Tessiner den Schneesturm bezeichnend nennt – geräth, – und doppelt Wehe über ihn, wenn er nicht ein von den Unbilden des Wetters längst abgehärteter Mann, – wenn er ein Fremdling aus milderen Klimaten ist, der dem jähen Anprall und der nachhaltig-einbohrenden Wuth der Elemente nicht Entschlossenheit, stählernen Muth, stramme Kraft, zähe Ausdauer entgegen zu setzen vermag! Er ist, wenn nicht Wunder ihn retten, ein Kind des Todes. Schon Tausende fielen dem Ungethüm als Opfer, wenn sie mit den Vorboten eines Schneesturmes unbekannt waren oder, wohlgemeinten Warnungen nicht folgend, ihren Weg fortsetzten. Denn erfahrungsmäßig toben die „Guxeten“ am bösartigsten in jenen Alpeneinschnitten, durch welche Bergstraßen und Pässe hindurchführen, und zwar sonderbarer Weise beim Nordwinde an der südlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am heftigsten. Berüchtiget sind in dieser Beziehung ganz besonders der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf letzterem ward ein großer Theil des russischen Heeres unter Suwarow, bei der Retirade im October 1799 eine Beute der Schneestürme. Nach mündlichen Versicherungen der Bernhardiner Mönche ist in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Mensch am Großen St. Bernhard durch einen Schneesturm mehr um’s Leben gekommen.

Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den bösen Gast anmelden. Die sonst matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im Farbentone sich ablöst, wird bestimmter, dicker, gesättigter, man sieht ihr gleichsam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgszüge, deren nackte Felsenknochen deutlich erkennbar heraustraten, werden erst leicht, dann aber immer trüber und dichter verschleiert, bis sie zuletzt ganz verschwinden. Die Luft ist ruhig, sehr kalt, ohne jene kräftige säuerliche Winterfrische zu athmen, welche an heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubensitzen verdumpften Sinne völlig neu belebt; – trockene, frostige, harte Luft füllt die Atmosphäre. Dazu lagert ringsumher unbeschreiblich lautlose Stille über der erstorbenen Einöde. Das sprungfertige Volk der Gemsen, welches im Sommer tiefe Höhen belebt, wohnt jetzt in tiefer liegenden Forsten, – das pfeifende Murmelthier liegt im Winterschlafe erstarrt in seiner Höhle, und selbst die im Winter kreischend die zerspaltenen, schwer ersteigbaren Granitzinnen umkreisende Bergdohle hat sich in ihr Kluftennest geflüchtet; kein dürres Laub raschelt an den Aesten, denn in diesen Höhen hat der Baumwuchs aufgehört, und die melancholische Legföhre und das Alpenrosen-Gebüsch schlummern tief unterm Schnee – kein Windhauch rieselt Schneekörner über die jähen Fluhsätze – allenthalben herrscht jene bange Stille, welche an schwülen Sommertagen dem Ausbruche eines heftigen Gewitters voranzugehen pflegt. Die einzigen Laute, welche der Wanderer vernimmt, sind sein eigenes tiefes Athmen, das Schnauben der Rosse (wenn er mit dem Schlitten das Gebirge passirt) und das knitternde Aechzen des getretenen Schnees.

Nähert sich nun die Katastrophe, dann hüllen massige graue Wolken auch die näherliegenden Bergspitzen ein und lasten so dick und schwer auf ihnen, als wollten sie für eine Ewigkeit hier Posto fassen. Noch immer ist’s Zeit, die schützende Cantoniera (Refuge, Zufluchtshaus) oder das gastliche Hospitium zu erreichen, wenn es nicht allzufern ist, – aber auch immer dämmeriger wird’s, – der Abend scheint den Mittag übersprungen zu haben. Plötzlich erschreckt den besorglich eilenden, schon halb ermüdeten Reisenden ein heftiger, scharfer Windstoß, der ihm eine Handvoll emporgerafften Schnee entgegenwirft; dann ist’s wieder ruhig, – still rundum, wie vorher. Diese intermittirenden Vorläufer wiederholen ihre Mahnung noch einigemal, gewöhnlich nach immer kürzer aufeinander folgenden Pausen. Es sind die äußersten und letzten Erinnerungszeichen zur Flucht. Denn nun beginnt ein seltsames unheimliches Tönen in den Felsenkammern und Steinschluchten, erst leise und seufzend, dem wimmernde Antwort von der entgegengesetzten Seite folgt, dann vernehmlicher, näher, stärker, aber rasch weit und weiter verklingend in anderen Gebirgsrevieren; es ist, als ob ferne verwehte Stimmen um Hülfe riefen. Diese durch die Luft streichenden Klagen tönen jetzt aus einer dritten und vierten Ecke hervor, aber so getragen, so einförmig und hohl, so ganz anders als im Lande drunten, wenn um die Zeit des Aequinoctiums der Wind durch Kamin und Thürspalten seine jammernden Melodieen heult. – Das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_662.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)