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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Roß vorm Schlitten haut fester mit den Hufen in den unsicheren, lockeren Pfad, und schnaubt öfter und unwillig, – sein Instinct verräth ihm die nahende Gefahr; unaufgefordert strengt es seine Kräfte in erhöhtem Maße an, rascher fort zu kommen – und keuchend folgt ihm sein Treiber. Dem winselnden Unisono gesellt sich jetzt ein tiefer Grundton zu; die dazwischen liegenden Stimmen mehren sich, die Disharmonieen werden voller, und mit ihnen schwillt das Getöse immer wilder, immer mächtiger, immer lauter an und durchheult die Lüfte. Noch wenig Augenblicke, und nun entladen auch die Schneewolken ihren Inhalt und senden einen Hagel feiner, nadelspitzer Eispfeile mit solch unbändiger Gewalt hernieder, daß alle entblößten Theile des Körpers auf das Schmerzhafteste von ihnen getroffen werden. Der fast erschöpfte Wanderer kehrt der Seite, von welcher die Massen am tollsten herabwüthen, den Rücken zu; – aber was hilft’s? Die jagenden Fluthen der Eisnadeln schlagen gleich den brandenden Meereswellen um ihn zusammen, und so wie diese, zu Schaum zerspritzt, dem Orkane sich wieder entgegenwerfen, so ändern auch die seine Schultern bestreichenden Schneestaubwolken ihre Fluchtbahn und greifen in kreiselndem Wirbel den Betäubten von vorn an. Er kann Nichts sehen, und deckt wechselweise mit Arm und Hand und Tuch die Augen, die Wangen, das ganze Angesicht, welches von der schneidenden Kälte und den brennenden Stichen aufzuschwellen beginnt, – er kann nicht athmen, denn die zu Eis verkörperte Luft fährt wie ätzendes Gift durch die Respirationsorgane in die Lunge und bohrt sich bei jedem Athemzuge wie mit tausend Spitzen fest. Er ist hereingebrochen, der furchtbare Schneesturm des Gebirges mit all seinem Entsetzen, seiner gräßlichen Wildheit, und umwüthet Alles, was in seinem Bereiche liegt. Das ist ein Hetzen und Peitschen durch die Lüfte, das tobt und stöhnt und pfeift und braust um die starren Felsenhörner, als ob die Atmosphäre wahnwitzig geworden wäre, und die Zntroduction zum letzten Gericht beginnen sollte. Und in Mitte dieses Aufruhrs steht der Mensch, der Herr des Erdballes, der mit Eisen und Dampf die Materie sich dienstbar gemacht und die Elemente seinem Willen unterjocht zu haben wähnt, – er steht da, ein armes, ohnmächtiges, verlassenes Geschöpf in grausenhafter Schneewüste, eine sichere Beute des Todes, wenn die Sinne ihm schwinden, wenn die letzte Kraft ihn verläßt.

Denn tritt auch eine kurze Pause in dem entsetzlichen Aufruhr ein, kann der Ueberfallene für wenige Secunden die Augen öffnen, so sieht er keine Spur des zu verfolgenden Weges mehr. So tief wie er, oft bis an die Kniee, im frischgefallenen und ab den Bergen zusammengewehten Schnee steht, eben so tief und stellenweise noch tiefer liegt derselbe überall. Darum hat die Vorsicht der Thalbewolmer diesseits und jenseits vielbegangener Pässe schon seit aller Zeit die Einrichtung getroffen, 20 bis 30 Fuß hohe Schneestangen vor Wintersanfang längs des ganzen Paßweges in’s feste Gestein zu setzen, die bei verwehetem Pfade als Allignement dienen. In ergiebigen Wintern ist’s indessen schon vorgekommen, daß an manchen Stellen auch diese Stangen unter dem von allen Seiten zusammengewehten Schnee verschwanden. Denn in der oberen Alpenregion, d. h. in der absoluten Höhe zwischen 5500 und 7000 Fuß über dem Meeresspiegel, nur in der subnivalen oder unteren Schneeregion zwischen 7000 und 8500 Fuß fällt der Schnee in ganz anderer Menge als in der Ebene, wo nicht nur das Quantum des auf einmal gefallenen Schnees weit unbedeutender als im Gebirge ist, sondern wo auch steter Temperaturwechsel mehrmals in einem Winter die ganze Schneedecke wieder hinwegrollt.

Müdewerden, Schläfrigkeit, Hinsinken vor Ermattung, allmähliches Schwinden der Besinnung und endliches Erstarren vor Kälte sind die Progressiv-Stadien des herbeischleichenden Todes. Jedes Jahr fordert seine Opfer. Die Erinnerung an traurige Ereignisse dieser Art lebt traditionell im Munde des Volkes, das am Fuße solcher Bergübergänge wohnt, lebhaft und in Menge fort. Von den vielen Beispielen mögen nur zwei hier einen Platz finden.

Zm Jahre 1817 hatten fünf Hannoveraner einen Pferdetransport in die Lombardei gebracht und befanden sich auf dem Heimwege. Alle waren kräftige, gesunde Männer, die daheim schon manche Unbilden des Wetters erfahren und mit leichter Mühe überwunden hatten. Im Dorfe Bernardino, 11/4 Stunde südlich unter dem gleichnamigen Bergübergange im Canton Graubünden (auf der Linie von Chur nach Bellinzona), wo sie einkehrten, warnte man sie dringend, ihren Weg fortzusetzen, weil ein Schneesturm im Anzuge und deshalb die Passage lebensgefährlich sei. Allein angefeuert durch starken Veltliner Wein und im Bewußtsein des Vollbesitzes ihrer ungeschwächten physischen Kräfte, gaben sie allen Vorstellungen kein Gehör und rüsteten zur verhängnißvollen Reise. Damals bestand die gegenwärtige Kunststraße noch nicht, und das jetzt oberhalb der Victor-Emanuels-Brücke am kleinen Moësola-See stehende sturmestrotzige, feste steinerne Berghaus auf der Uebergangshöhe existirte eben so wenig. Es war somit vom Dorfe Bernardino bis nach Hinterrhein im Rheinwaldthal ein ununterbrochener Marsch von 31/2 Stunden Entfernung, zu welchem aber bei dem durch die gefallene Schneemenge erschwerten Fortkommen mindestens fünf Stunden Zeit nöthig wurden. Die Unbesonnenheit der Fremden konnte ein anwesender Landmann aus dem Dorfe Hinterrhein nicht mit ansehen, und er, der sich selbst nicht getraut hatte, den Heimweg anzutreten, schloß sich nun, als alle Gegenreden fruchtlos blieben, den Tollkühnen an, um ihnen mindestens als Führer zu dienen. Das Unwetter brach in seiner ganzen Furchtbarkeit los, als die Wanderer ungefähr die Höhe des Passes erreicht hatten. Anfangs unter leichtsinnigen Scherzen, dann mit ernstlichem Aufwand aller Kräfte, endlich mit Verzweiflung, kämpften sie wie Männer gegen den übermächtigen Feind an, – allein vergebens. So sehr der wackere Rheinwäldler Alles aufbot, um die Unglücklichen zu retten, so sank dennoch Einer nach dem Anderen, zum Sterben ermattet und bei vollem Bewußtsein resignirend, dem Tode in die Arme. Lange bestrebte sich der opferfähige Gebirgsbauer, mindestens den Letzten zu retten; aber auch hier erkannte er nur zu bald, daß er selbst unterliegen müsse, wenn er seinen Vorsatz nicht aufgebe und den geringen Rest der ihm übrig gebliebenen Kräfte auf seine eigene Rettung verwende. Er erreichte zwar lebend seinen Geburtsort, – aber mit gänzlich erfrorenen Händen und Füßen; Finger und Fußzehen mußten amputirt werden. Er ward zum Dank für seine Menschenfreundlichkeit ein Krüppel.

Ein anderer tragischer Fall ereignete sich auf der Gotthardsstraße in der Nacht vom 9. zum 10. April 1848. Die italienische Post, welche am Nachmittage den Berg in der Richtung von Andermatt nach Airolo überschreiten sollte, hatte, durch enorme Schneemassen aufgehalten, sich bedeutend verspätet. Mit Pferden und Schlitten die Straße zu passiren war unmöglich, und Conducteur Simen entschloß sich deshalb, die Postfelleisen mit den Briefschaften und Paqueten durch Träger über den Gotthard zu befördern. Unter diesen Trägern befand sich auch Joh. Jos. Regli, Steinhauer von Profession. Als die Karawane Urseren verließ, stürmte es zwar wild und warf Schneemassen in dichter Menge nieder; indessen die muthigen Berggänger glaubten dennoch dem Wetter trotzen zu dürfen und drangen tapfer vorwärts. Als sie jedoch etwas über das zweite Drittel des Weges zurückgelegt hatten, brach ein Schneesturm über die Lucendro-Alp mit solch vehementer Gewalt herein und verwehte die Straße dermaßen, daß Alle die Richtung verloren. Rundum war es vollendet finstere Nacht. Der Sturm peitschte wie mit Skorpionen-Geißeln die seiner Vernichtungs-Wuth preisgegebenen pflichtgetreuen Männer. Noch immer hielten sie Stand und suchten trotz alles Ungemaches ihr Ziel zu erreichen. Endlich, als sie ziemlich auf der Höhe des Passes in der Gegend von San Carlo beim sogen. „Wasserloch“ (Valeggia) angelangt waren, vermochte Regli nicht weiter zu kommen. Die Cameraden, obgleich selbst schwer bepackt, versuchten es dennoch, ihren Schicksalsgenossen durch den mehr als drei Fuß hohen weichen Schnee mit fortzuschleppen; aber auch sie verließ allmählich die Kraft und sie erkannten das Gräßliche ihrer Lage, den sicher drohenden Tod, wenn sie nicht den ermatteten Freund aufgeben und zurücklassen würden. Man packte ihn deshalb dicht in Mäntel und wollene Decken, brachte ihn unter eine schützende Felsenwand und ließ sämmtliche Felleisen und Transportgegenstäude bei ihm zurück, um möglichst rasch das Hospiz zu erreichen und Hülfe von dort zu requiriren. Es war nur noch zehn Minuten entfernt, und doch brauchten die Männer fast eine und eine halbe Stunde, bis sie das rettende Asyl erreichten. Sofort brach der Director dieses Samariterhauses, Herr Lombardi, mit Hülfsmannschaft, Geräthen und Laternen auf, den Unglücklichen zu retten. Er kam zu spät. Regli, ganz überschneit, daß man ihn kaum finden konnte, war erfroren.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_663.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)