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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

auf die Dastehende: „Sie sind ja wohl die Jungfer Mary? hier bringe ich Ihre Sachen!“

„Und sonst haben Sie nichts zu bestellen?“ fragte das Mädchen, als Jener Miene machte, das Fuhrwerk wieder zu besteigen.

„Hat mir nichts weiter gesagt, der Mr. Kreuzer!“ war die einsylbige Antwort. Die Pferde zogen an, in den Rückweg einbiegend, und bald verschwand der Wagen hinter dem nächsten Welschkornfelde.

Mary hatte ihm nachgesehen, so lange er zu erblicken war, während es um ihren Mund wie eine gewaltsam unterdrückte Empfindung zuckte. Dann aber, als sei sie vollkommen mit sich klar und fertig, warf sie einen Blick nach der bereits tiefstehenden Sonne und setzte sich auf den am Rande des Weges stehenden Koffer nieder. Sie war noch immer zweifelhaft, was sie thun sollte – ob nach der Stadt fahren oder auf den Major warten. Das Schicksal sollte über sie entscheiden. Noch waren nicht zehn Minuten verflossen, als sie den Major Osborne zwischen den Maisfeldern hervorkommen und bei ihrem Erblicken einen schnellern Schritt annehmen sah.




Es war vierzehn Tage später, und das Countystädtchen bot ein Bild von Aufregung, wie es seit seiner Erbauung noch nicht erlebt worden war. Der Ort bestand fast nur aus einer langen Hauptstraße, deren Mittelpunkt das Court-(Gerichts-) Haus, umgeben von den hauptsächlichsten Hotels, Kaufläden und Trinklocalen bildete, und vor jedem dieser Geschäfts- und Erfrischungsplätze trieb sich eine sichtlich erregte Menschenmenge umher, gesticulirend und in englischer, wie deutscher Zunge durch einander redend. Die Meisten der Anwesenden gehörten augenscheinlich der Landbevölkerung an, doch fehlte es auch nicht an Gestalten, wie sie sich besonders in neugegründeten Landestheilen finden, Leute, von denen Niemand weiß, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen, wenn es nicht durch Vieh- und Pferdediebstahl, Spiel und Verbreitung von falschem Gelde geschieht, und die überall auftauchen, wo eine Aufregung sich der Bevölkerung bemächtigt.

Der Gerichtshof war heute zusammengetreten, um den Proceß gegen James Osborne, als Mörder des Heinrich Kreuzer, zu beginnen. Aus irgend einem Grunde aber war der Anfang der Verhandlung auf den nächsten Tag verschoben worden, und die aus allen Theilen des County’s zusammengeströmten Menschen waren in ihren Erwartungen getäuscht. Anfänglich schien es, als würde die in der Nähe des Courthauses angesammelte Menge ruhig auseinandergehen, bald aber begannen in den einzelnen Haufen, wie sie sich vor den Thüren der Trinklocale gebildet, die verschiedensten Gerüchte über die Ursache der Gerichts-Vertagung zu cursiren. Zuerst hieß es, die Jury sei aus lauter Amerikanern, alle vom Major Osborne bestochen, zusammengestellt, nun sei aber Einer davon krank geworden, und so müsse erst ein neuer zuverlässiger Mann gefunden werden. Dann kam eine andere Version. Nicht an der Jury liege es, aber dem Mädchen, welches den Hauptzeugen mache und zu Gunsten des Mörders aussagen solle, schlage das Gewissen so, daß sie erst wieder richtig bearbeitet werden müsse. Von anderer Seite aber wurde dem widersprochen – das Mädchen sei des Uebelthäters Liebste gewesen und denke gar nicht daran, sich ein Gewissen aus irgend etwas zu machen – der Grund der Vertagung liege in der Menge versammelter Deutscher, von denen man vermuthe, daß sie die im Voraus „gefixte“ und abgemachte Freisprechung des Mörders nicht ruhig hinnehmen würden, und es sei beschlossen, so lange ein Hinderniß gegen den Beginn des Processes zu finden, bis die Deutschen es müde würden, der Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Und es war wunderbar, wie schnell diese letzte Angabe die Runde machte und Anklang fand, wie sie durch die Bestätigung von den verschiedensten Seiten über allen Zweifel festgestellt und in dem Durcheinandertreiben der erregten Masse durch eine Menge der bestimmtesten Einzelheiten ergänzt wurde. Bald begannen sich die Trinklocale zu füllen, abwechselnd ihren Menscheninhalt wieder ausspeiend und einen neuen Strom aufnehmend. Die Aufregung fing sichtlich an zu steigen – aus dem Innern der Schenkzimmer klang das Schlagen der Fäuste auf die Tische, und außerhalb fielen Aeußerungen, drohend wie das erste Wetterleuchten bei einem aufsteigenden Gewitter.

Da begann ein Haufen Menschen sich unter Geschrei aus einem der größeren Locale zu wälzen, und von dem Spectakel angezogen, begannen von allen Seiten neue Haufen sich heranzudrängen. Bald war die Hälfte des freien Raums vor dem Courthause mit einer dichten Menge gefüllt, und aus der Mitte derselben tauchte, von unsichtbaren Kräften gehoben, eine einzelne Gestalt auf, den zerdrückten Hut auf dem rothen Gesichte nach dem Hinterkopfe schiebend und die massiven Hände, welche bis über die Knöchel aus den engen Aermeln des schäbigen schwarzen Fracks ragten, weit von sich streckend.

„Gentlemen!“ begann er englisch, und eine tiefe Ruhe lagerte sich über die Masse, „Gentlemen, so viel ich verstehe, handelt es sich hier um eine deutsche Sache, aber ich schere mich verdammt um nichts Anderes, als daß es eine gerechte Sache ist, und das ist sie!“ Ein einzelner jolender Beifallslaut wurde hörbar, dem aber, als sei er nur ein Signal gewesen, ein lautes Beifallsgeschrei der Masse folgte.

„Ich sage, Gentlemen,“ fuhr der Redner fort, „es ist eine Sache, die das Volk selber in die Hand nehmen sollte; es handelt sich darum, ob der Reiche, nur weil er reich ist und Advocaten, Zeugen und Jury bezahlen kann, nach Belieben einen Andern todtschlagen und frei ausgehen darf, während der Arme, der das nicht kann, hängen muß ohne Gnade – Gentlemen, ich habe den alten Vater des Gemordeten unter Ihnen gesehen, dem seine einzige Stütze geraubt ist. Ich habe von Ihnen gehört – und verdammt will ich sein, wenn Sie nicht gerade dem Dinge auf den Leib gingen, was wir jetzt brauchen – wollen Sie noch warten, bis der Mensch, der sein Verbrechen schon eingestanden hat, mit Hülfe seines Geldes sich auf und davon macht und Sie Alle betrogen sind? Eins will ich Ihnen nur noch sagen: Wäre dies nicht eine deutsche, sondern eine amerikanische Sache, so wäre schon längst geschehen, was nothwendig ist, wenn das Volk die Gerechtigkeit gegen Reichthum und Bestechung selbst in die Hand nehmen muß!“

Der Redner tauchte nieder in die Menge, die einige Secunden unbeweglich in einer unheimlichen Stille verharrte. Dann ließ sich plötzlich eine einzelne Stimme hören: „Drauf, holt ihn ’raus!“ und ein wirres hundertfältiges Geschrei folgte als Antwort. „Hängt ihn!“ klang es und: „hängt ihn!“ brüllte es nach. Ein wildes Wogen kam unter die Masse, bis der wiederholte Ruf: „Nach der Jail!“[1] der Bewegung eine bestimmte Richtung gab.

Ein Stück die Straße hinauf stand ein ausschließlich von Amerikanern besuchtes Gasthaus, und dort saß schon seit dem frühen Morgen Mary in einem Hinterzimmer, der Zeit gewärtig, in welcher sie ihr Zeugniß ablegen sollte.

Sie war vor vierzehn Tagen dem Major nach einer amerikanischen Farm gefolgt, entschlossen, sich gefaßt ihrem neuen Schicksale zu fügen, sei dies, welches es wolle. Indessen schien es in der Familie, die sie jetzt aufgenommen, Niemandem einzufallen, ihr eine Arbeit anzumuthen, der sie sich nicht freiwillig unterzog. Sie sah sich völlig als Gast behandelt, nur daß die Freundlichkeit, welcher sie begegnete, eine so kalte und gemessene war, daß sie herauszufühlen meinte, sie werde hier nur dem Major zu Liebe als der nothwendige Zeuge verwahrt, und ihr Aufenthalt hier werde ebensobald ein Ende nehmen, als man sie nicht mehr brauche. Aber selbst dann wäre sie nicht schlimmer daran gewesen als vor dem Eintritte in das Haus, und so, ohne sich vorzeitigen Sorgen hinzugeben, bat sie in voller Freundlichkeit darum, sich nützlich machen zu dürfen, erwähnte ihrer Fertigkeit mit der Nadel und schien hier einen leicht zugänglichen Punkt bei der Frau des Hauses getroffen zu haben. Sie erhielt eine Arbeit, wenn auch in einer Weise, als wolle man ihr nur den Willen thun. Als aber unter Mary’s leichten Fingern die Stücke sich wie im Spielen zusammenfügten, als sie neue Beschäftigung verlangte und der heimlich prüfende Blick der Hausfrau auf die sauberste Arbeit gefallen war, begann das Gesicht der alten Lady einen wärmern Ausdruck zu gewinnen. Die Tochter des Hauses, kaum viel jünger als Mary, obgleich sie noch eine Schule in der Nachbarschaft besuchte, setzte sich am Nachmittage zu dem Gaste und leitete ein Gespräch ein, an welchem auch bald die Mutter Theil nahm, und Mary hatte, wohlthuend von der größeren Herzlichkeit berührt, nach Kurzem einzelne Theile ihrer Geschichte mitgetheilt, ohne daß sie es nur recht beabsichtiget. Noch keine Woche hatte sie im Hause verbracht, als sich auch nach und nach unter den sämmtlichen Familiengliedern eine deutlich erkennbare Theilnahme für den jungen Gast geltend machte, und ein vertraulicherer Ton sich gegen sie herausbildete; wie absichtlich aber wurde niemals des gefangenen James erwähnt, oder auch nur der Name desselben genannt, und Mary selbst, so oft sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 676. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_676.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)
  1. Das Gefängniß.