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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

nach dem, was sie uns und meiner Lucy, mit der sie Freundschaft gemacht, erzählt hat, schon viel Unglück erlebt haben, und das macht frühzeitig reif.“

„Ich halte das ganze Gerede über die junge Lady für einen böswilligen Schwatz der Kreuzer’s und ihrer Anhänger,“ begann jetzt der Advocat, „und ich traue meiner Menschenkenntnis; so viel zu, daß ich rathen möchte, nur das als wahr zu betrachten, was sie als geschehen angibt. Ihre Erscheinung und ihre Weise, einer grundlosen Anschuldigung entgegen zu treten, wird viel günstiger auf die Jury wirken, wenn wir der Gegenpartei vollen Spielraum lassen, als wenn wir einzelne Fragen der Anklage unbeantwortet niederschlagen!“

„Gerade meine Meinung!“ warf der Farmer ein, „und ich kann Ihnen nebenbei sagen, Major, daß Ihr James gar keinen übeln Geschmack hat!“

„Danke schön!“ brummte Osborne, „mein Geschmack sind aber diese Deutschen, mögen sie nun aussehen, wie sie wollen, niemals gewesen, und der dumme Junge soll eher an etwas Anderes denken, als an ein Mädchen, das ihr bisheriger Pflegevater in New-York auf der Straße aufgelesen hat!“ –

Mary war nach der Kammer gegangen, welche sie mit der Tochter des Hauses theilte. Bald aber kam diese, ihr verkündend, daß der Major mit seinem Begleiter das Haus verlassen habe – und von diesem Tage an fand Mary in der Familie eine erhöhte Herzlichkeit, eine Theilnahme, welche sich mehr in der Art, ihr zu begegnen, als in bestimmten Worten aussprach. James wurde zwar nach wie vor nicht erwähnt, desto mehr aber stand er vor Mary’s Seele, nicht als Bild geheimer Sehnsucht oder stillen Verlangens, sondern als edler Mensch, der ihr vergelten wollte, was sie um seinetwillen verloren – wenn sie jetzt auch selbst zurückweisen mußte, was sie unter andern Umständen wohl glücklich gemacht haben würde.

So kam der Tag der eröffneten Gerichtssitzung heran, und von dem Major, welchen die Nähe der Entscheidung völlig schweigsam gemacht zu haben schien, abgeholt, wie von ihrer neuen Freundin Lucy begleitet, hatte Mary den Weg nach der Stadt angetreten. Osborne hatte dort, um seinen Advocaten aufzusuchen, die beiden Mädchen im Hotel allein gelassen; bald aber verließ auch die lebendige Lucy, von dem entstehenden Lärm auf der Straße angezogen, das Zimmer. Mary’s Gedanken wandten sich, sobald sie allein war, der bevorstehenden Verhandlung, von welcher sie sich nur einen dunkeln Begriff zu machen wußte, zu; trotz des Unbekannten aber, welchem sie entgegen ging, fühlte sie einen Muth in sich, für die Sache des Angeklagten einzustehen, der ihr ganzes Innere hob und kräftigte.

Kaum einige Minuten indessen mochte sie mit sich selbst beschäftigt gewesen sein, als Lucy mit verstörtem Gesichte zur Thür hereinstürzte. „Um Gotteswillen, das gibt ein Unglück – sie wollen ihn lynchen – komm und sieh selbst!“ rief sie und ergriff die Hand der Freundin, diese mit sich aus dem Zimmer reißend.

Mary verstand nichts, als daß dem Angeklagten ein Unglück drohe, und selbst als sie, bleich von dem sie überkommenden Schrecken, auf dem Balcon des Hotels stand und mit mehreren der Inwohner, die sich dort bereits gesammelt, auf die heranziehende schreiende Menge blickte, konnte sie sich von der eigentlichen Natur des gefürchteten Unglücks noch keine rechte Vorstellung machen.

„Da – sie wollen das Gefängniß stürmen, sie wollen ihn hängen! hörst Du?“ rief Lucy entsetzt.

„Das gibt eine fürchterliche Geschichte. Fast lauter Deutsche, zu denen man nicht einmal eindringlich reden kann, und eine Menge verdächtiges Gesindel darunter, das den Brand nur immer ärger schürt!“ klang die Stimme eines nebenstehenden Mannes; „sie meinen, der Gefangene soll der Untersuchung entzogen werden – die alte Geschichte, sie wollen kurzen Proceß mit ihm machen – in fünf Minuten müssen sie das Gefängniß erbrochen haben!“

Mary überblickte die sich an dem Hotel vorüber wälzenden Menschen, und das Verständniß der drohenden Gefahr stieg mit einer Klarheit, die sie fast erdrückte, in ihrer Seele auf. Ihr Auge flog umher, ob nicht irgendwo eine Macht dem wahnsinnigen Haufen entgegentrete; noch an die europäischen Begriffe öffentlicher Ordnung gewöhnt, schien es ihr unmöglich, daß selbst nur der Versuch zu einem Verbrechen, wie es hier beabsichtigt wurde, ungestraft gemacht werden könne. Aber in sichtlich sich immer steigernder Aufregung bewegte sich die Masse dem Countygefängniß entgegen, das unweit des Courthauses in einer Nebenstraße seine aus Balken gezimmerte, mit einer starken Thür versehene Vorderseite zeigte. Einige Aexte wurden plötzlich in den Händen der vordersten Gestalten, welche die Führer der ganzen Bewegung zu sein schienen, sichtbar; die Zeit konnte schon fast berechnet werden, in welcher die Thür vor dem Andrange zusammenbrechen mußte, und Mary meinte, ihr Herz sich wie in einem Krampfe zusammenziehen zu fühlen. „Soll denn das wirklich geschehen?“ wandte sie sich an die sie umstehenden Männer.

„Es ist eine Schande!“ erwiderte der frühere Sprecher, „aber wer will sich dem Mob entgegenstellen, wenn er sich nicht selbst opfern will?“

Da fiel Mary’s ruheloses Auge auf eine Gruppe, welche sich an einem der Häuser, einige Schritte abseits der wogenden Masse befand, und ihr Blick begann sich mit einem eigenthümlichen Feuer zu beleben. Der alte Kreuzer war es, der lebhaft gesticulirend zwischen drei oder vier Männern stand – kaum zwei Secunden ruhte des Mädchens Auge auf ihm, als sie, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, sich nach dem Innern des Hauses zurückwandte und von da die Treppe hinabeilte. Auf halbem Wege kam ihr hier der junge Advocat erhitzt und von Schweiß triefend entgegen. „Ist der Major oben?“ rief er ihr zu und faßte, da sie an ihm vorbei eilen wollte, als hätten seine Worte kaum ihr Ohr berührt, ihren Arm.

„Lassen Sie mich, lassen Sie mich!“ rief sie leidenschaftlich, „oder das Unglück geschieht, ohne daß Jemand helfen kann!“ Seine Hand löste sich, und sie stürzte weiter; er aber folgte, als wisse er nichts Besseres zu thun, dicht an ihrer Seite.

Mit fliegenden Schritten eilte das Mädchen der von ihr wahrgenommenen Gruppe zu und schob die Männer, welche den Alten umstanden, energisch zur Seite. „Vater, um Gotteswillen!“ rief sie, die Hand des sichtlich betroffenen Farmers ergreifend, „wenn Du nicht selbst zum Mörder mit werden willst, so sprich ein Wort zu den Leuten! Auf Dich werden sie hören, müssen sie hören, Du hast das Recht hier und sonst Niemand. Du weißt, Vater, daß ich Dein gutes Kind gewesen bin, das Dich lieb gehabt wie seinen leiblichen Vater und dem Du glauben darfst – Du weißt, wie der Heinrich um’s Leben gekommen ist, und daß Alles Bosheit ist, was in einer andern Weise gesagt wird; jetzt hilf, daß ein wirklicher Mord verhütet werde, der Dir nimmermehr Ruhe lassen würde, wenn Du ihn hättest verhindern können –“

„Ich möchte’s ja wohl, ich verdamme das ganze Treiben, ich hab’s eben gesagt! aber wie kann ich helfen – ?“ rief der Alte, das Auge von dem Mädchen abwendend, und über die tobende Menge, die kaum noch zwanzig Schritte von ihrem Ziele entfernt war, blickend; – da klang ein heller Laut durch den Lärm, und auf der Treppenerhöhung, welche nach der Gefängnißthür führte, erschien eine kräftige Gestalt mit grauem Haar, mit beiden Händen beschwichtigend über die Menge winkend.

„Der Richter – hört ihn!“ erklang es zugleich von verschiedenen Seiten; die Menge schien zu stutzen, und der Lärm minderte sich. Mit möglichster Anstrengung erhob der aufgetauchte Redner seine Stimme, und einige Secunden lang schien es, als solle er Gehör gewinnen; als aber die englischen Laute an die deutschen Ohren schlugen, begann der Lärm wieder zu steigen und wurde bald so arg, als er nur vorher gewesen. „Aus dem Wege mit ihm, er ist gerade so gut gekauft, wie die Andern!“ wurde eine brüllende Stimme laut, und das jetzt folgende Geschrei verschlang die letzten noch hörbar gewesenen Laute des Redners.

Mit zitternder Spannung, Kreuzer’s Hand fest in der ihrigen haltend, hatte Mary den Vorgang beobachtet. „Jetzt komm, Vater, sprich zu den Menschen, oder es wird zu spät!“ fuhr sie auf, als der bisherige Sprecher Miene machte, seinen Platz zu verlassen. Sie hatte in der Verwirrung des Augenblicks englisch gesprochen, und ein plötzlicher Hoffnungsschein ging über das Gesicht des Advocaten an ihrer Seite. – „Du mußt, Vater!“ fuhr sie energisch fort, als der Alte, wie im Kampfe mit sich, den Blick zur Seite wandte, „Du mußt, wenn Du an Dich selber und die Andern zu Hause denken willst; um Deinetwillen geschieht hier Alles, und auf Dich wird es allein fallen, wenn die That geschehen ist!“

„Sie hat Recht, Sir!“ trat der Advocat drängend hinzu; „zögern Sie keinen Augenblick, wenn Sie nicht um des fremden Gesindels willen, das nur des Spectakels wegen die Sache angezettelt hat, sich selber unglücklich machen wollen!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_690.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2018)