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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Hände das Billet. Sie sah nicht nach der Unterschrift, sie begann langsam, als wolle sie jedes Wort erwägen, zu lesen:

„Theuere Mary!
Ich habe mit meinem Vater ein langes, ernstes Gespräch gehabt und begreife jetzt die Gründe Ihrer Handlungsweise, die mich heute Mittag vollkommen zu Boden schlug. Ich reise morgen früh von hier ab und werde Sie in zwei Jahren nicht wieder sehen – was mein Schicksal nach meiner Rückkehr sein wird, liegt einzig in Ihrer Hand.
Ich habe meinem Vater versprochen, nichts mehr als diese Nachricht Ihnen zugehen zu lassen, und ich will ehrlich gegen ihn sein, damit ich später auch volle Ehrlichkeit von ihm fordern kann.
Gedenken Sie Ihres
James Osborne.“

Noch als bereits die volle Dunkelheit hereinzubrechen begann, saß das Mädchen auf dem eingenommenen Platze, den erhaltenen Brief in der herabgesunkenen Hand und das Auge träumend durch das offene Fenster gerichtet.




Es war kein Wort über Mary’s fernern Aufenthalt in dem Hause geredet worden, aber unter den Familiengliedern herrschte ein Ton, als verstehe sich ihr längeres Bleiben von selbst. Wohl war es dem Mädchen in den ersten Tagen gewesen, als dürfe sie eine Rücksicht nicht annehmen, die kaum auf etwas Anderes als auf das Mitleid mit ihrer vereinsamten Stellung gegründet sein konnte. Indessen hätte sich eine Aenderung ihrer augenblicklichen Lage nur durch den Uebertritt in ein dienendes Verhältniß herbeiführen lassen, und so wenig sie auch früher den geringsten Anstoß daran genommen, so war es ihr doch jetzt, als müsse ein derartiger gesellschaftlicher Rücktritt ihr eine ganze Zukunft vernichten, die jetzt nur wie ein Traumgebild, das sie nicht zu berühren wagte, in ihr lebte. So schwieg sie und suchte in regem Bestreben sich nützlich zu machen, ihre neue Heimath zu verdienen, und das stille Lächeln der Hausfrau, wenn es in Lucy zu erwachen schien, als wolle sie nicht hinter der Freundin zurückbleiben, wie die launigen, wohlwollenden Worte des Farmers zeigten ihr eine Anerkennung, die ihr mit jedem Tage mehr ihre Sicherheit zurückgab.

Es war drei Wochen später, als an einem Nachmittage der kleine George Kreuzer auf der Farm erschien und in seiner Freude, die frühere Schwester wieder zu sehen, fast des Auftrags vergaß, der ihn hergeführt. Die Mutter sei so krank, berichtete er endlich, und wolle Mary gern sprechen, und Vater lasse recht sehr bitten, daß sie komme. Das Mädchen verfärbte sich einen Schatten, machte sich aber sogleich zum Mitgehen fertig.

Kreuzer mußte nach den Beiden ausgesehen haben, denn er kam ihnen schon auf halbem Wege nach der Einzäunung entgegen.

„Es ist ganz recht, Mary, daß Du kommst,“ sagte er, dem Mädchen trübe die Hand reichend, „ich denke, Mutter wird es nicht mehr lange machen – es sitzt ihr innerlich, weißt Du, wo kein Doctor dazu kann – aber komm herein!“

Mary überschritt die so bekannte Schwelle, und aus dem Bette im Vorderzimmer sah ihr die fast zum Skelett abgemagerte Gestalt der Frau entgegen. Sie machte einen Versuch, sich aufzurichten, als sie das Mädchen bemerkte, fiel aber matt zurück, und die Letztere beeilte sich, den Stuhl neben dem Bette einzunehmen.

„Ich mußte Dich noch einmal sehen, Mary,“ sagte sie mit einer Stimme, die von ihrem früheren Tone nichts als die eigenthümliche Härte behalten zu haben schien, „damit ich meinem Heinrich einen Gruß von Dir bringen kann. Er hat gemeint, Du wolltest nichts von ihm wissen, und der Osborne’s Junge müsse es Dir angethan haben; davon ist das ganze Unglück hergekommen, ich hab’s wohl gewußt. Und nun freut’s mich jetzt, daß ich ihm eine andere Nachricht bringen kann – ’s ist recht brav von Dir, daß Du den Andern hast ablaufen lassen! Er ist jetzt fort nach Europa, hör’ ich – wenn er aber auch an’s Ende der Welt ginge, wird er doch dem Wiedersehen mit meinem Heinrich nicht entlaufen können!“ Sie nickte einigemal still vor sich hin, dann sanken langsam ihre Augen zu, und als Mary sich über sie bog, war sie eingeschlafen.

Das Mädchen erhob sich leise, warf einen Blick durch das Zimmer, welches den gänzlichen Mangel einer ordnenden Hand verrieth, und traf auf den weichen Blick des Alten. „So hat sie bis jetzt noch keinen anderen Gedanken gehabt, als den Heinrich,“ sagte er halblaut; „komm heraus, daß wir sie nicht stören!“

„Ich denke, Vater,“ begann Mary, als sie in’s Freie traten, „ich komme jeden Morgen herüber und sehe nach der Wirthschaft, bis Mutter sich wieder erholt hat.“

„Wenn Du’s wolltest, Kind, es wäre gut für uns Alle!“ nickte Kreuzer, „vielleicht, wenn Alles wieder in rechten Zug kommt, wendet sich dann auch die Krankheit der Mutter; ich weiß sonst nicht, auf was ich noch eine Hoffnung setzen soll!“

„Morgen früh bin ich bei guter Zeit hier,“ erwiderte sie, dem Alten die Hand reichend, und von einem Händedruck begleitet, der fast zu wohlgemeint für ihre feinen Finger war, machte sie sich auf den Heimweg.

Als sie am andern Morgen Kreuzer’s Haus betrat, fand sie die Frau todt und das Haus von den nächsten Nachbarn gefüllt.




Die Zeit verging. Kreuzer hatte wirklich seine früher ausgesprochene Absicht ausgeführt, hatte seine Farm verkauft und die Gegend, die ihm so viel Herzeleid gebracht, verlassen. Sein Käufer aber war Osborne gewesen, und die Deutschen umher behaupteten, der Major habe nur einen so hohen Preis bezahlt, um den Alten bald aus der Nachbarschaft wegzubringen und so alle Erinnerungen an die vergangenen Dinge zu verwischen. Einigermaßen im Einklang damit stand wenigstens, daß der Käufer das Haus abbrechen und den Platz umher zu einem gewöhnlichen Maisfelde umpflügen ließ.

Mary, noch immer in der Familie des amerikanischen Farmers, war zu einer vollen, rosigen Jungfrau herangeblüht, und kein gesellschaftlicher Kreis in der Umgegend galt für vollständig, dem sie mit ihrer Freundin Lucy nicht beiwohnte. Lucy war bereits nach Jahresfrist Braut geworden; so viel begehrliche Augen aber auch auf Mary fielen, so viele halbe, prüfende Worte, trotz des bekannten geringen Vermögens, welches sie besaß, laut wurden, so wenig schien sie doch von dem Vorzug, welchen sie genoß, zu wissen oder auch nur den leisesten Unterschied in Behandlung der jungen Männer, welche sie umschwärmten, machen zu können. Mancher Besuch ward in der Familie mit augenscheinlich bestimmter Absicht abgestattet, aber niemals fiel seitens der „alten Leute“ auch nur das kleinste andeutende Wort gegen das Mädchen.

So war bereits der dritte Sommer herangekommen, welchen Mary in ihrer neuen Heimath verlebte, und sie war eines Morgens im Hinterzimmer mit Ordnung der Hauswäsche beschäftigt, als der Farmer hereintrat und sich mit einem eigenthümlichen Lächeln auf dem nächsten Stuhle niederließ. „Wir haben eine Einladung für morgen,“ sagte er, „und wenn wir Uebrigen auch nichts dagegen haben konnten, so habe ich doch in Bezug auf Sie noch nicht zugesagt. Der älteste Sohn vom Major Osborne, der Lieutenant, ist gekommen, um für eine längere Zeit Abschied zu nehmen; er ist nach irgend einem Fort hinten bei den Indianern commandirt, und so will der Vater zu seinen Ehren morgen noch eine „Partie“ geben.“

Das Mädchen sah starr auf ihre Wäsche nieder und schüttelte langsam den Kopf. „Sie glauben doch selbst nicht, daß ich bei der Einladung mit gemeint sein kann;“ erwiderte sie mit halber Stimme, „und wenn es wäre, so wissen Sie eben so gut, daß ich nach Allem, was mir der Major gesagt, zumal da er es nicht einmal eines Wortes der Entschuldigung gegen mich werth gehalten, nicht hingehen könnte!“

„’s ist schon recht und es war ungefähr, was ich vermuthete!“ nickte der Farmer, „er mag die Pille einmal schlucken. Uebrigens denke ich, Sie werden morgen nicht gar zu lange ohne uns sein!“ Er erhob sich mit einem sonderbaren Lächeln von Befriedigung und verließ das Zimmer.

Mary mochte etwas blässer sein als gewöhnlich, als die Familie am andern Tage nach des Majors Farm abfuhr, aber ihre, sichere Haltung beim Abschied sprach deutlich aus, daß sie der Gründe ihres Handelns sich voll bewußt war.

Fast zwei Stunden hatte sie im Vorderzimmer, eine Nätherei auf dem Schooße, verbracht, bald durch die offene Thür in die sonnige Waldlandschaft hinausblickend und ihren Gedanken nachhängend, bald, wie sich selbst auf verbotenen Wegen ertappend, eilig ihre Arbeit aufnehmend, als sie einen leichten Wagen an dem Thor der Einzäunung halten, und mit einem Gefühle, das wie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_694.jpg&oldid=- (Version vom 17.5.2018)