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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Waldes finden sich nur einige wenige Colonien, welche, wie die an den Außengrenzen befindlichen Ortschaften, nur von Forstbeamten und Jagdfrohnbauern der Krone bewohnt und der Forstpolizei unterthan sind. Der Hauptort und zugleich die älteste Ansiedlung mitten im Walde ist das Dorf Bialowicza, welches man erst von der Forst-Grenze aus nach einer halben Tagereise erreicht. Es liegt auf einem Hügel, zu dessen Füßen die Narewka (Nebenfluß der Narew) fließt, und besteht aus vielen rohen Blockhäusern und einem ebenfalls aus Holz ausgeführten Jagdschlosse, welches August III., König von Polen und Kurfürst von Sachsen, erbauen ließ.

Der ganze Bialowiczaer Wald ist in zwölf Abtheilungen oder Reviere getheilt, welche durch vierundzwanzig Fuß breite Gestelle von einander abgeschieden sind. Jedes Revier hat wieder seine Unterabtheilungen, und wie die Reviere von Oberförstern verwaltet werden, so werden diese von Unterförstern und vielen Jagd- und Waldbeamten geschützt. Die obere Leitung ist in den Händen eines Oberforstmeisters, welcher seinen Wohnsitz gewöhnlich in Bialowicza hat. Die Besoldung aller dieser Beamten, besonders der in den unteren Rangstufen, ist nur sehr gering. Was sie zu ihrem Unterhalt bedürfen, liefert ihnen der Wald, und ist ihnen die Jagd auf alle in demselben befindlichen Thiere, ausgenommen auf den Bison oder Auerochsen, völlig freigegeben. Dieser aber darf nur mit ausdrücklicher kaiserlicher Genehmigung erlegt werden, wie es in Preußen mit den Elenthieren ein gleicher Fall ist, die in den Forstrevieren und am kurischen Haff noch in ziemlich bedeutender Anzahl vorhanden sind. Auf die Bisonjagd kommen wir noch ausführlicher zurück, nachdem wir zuvor einen Blick auf den Wald selbst geworfen haben.

Auf die Vegetation in demselben hat die europäische Cultur noch nicht eingewirkt. Wir befinden uns in einem vollständigen Urwalde, in welchem die Spuren der Menschen noch gar nicht, oder doch nur in dem beschränktesten Maße erkennbar sind. Aber es darf nicht vergessen werden, daß dieser Urwald ein nordischer ist, daß er also einen ganz andern Charakter haben muß, als jene Urwälder auf der südlichen Halbkugel unserer Erde, die uns gewöhnlich bei dem Worte „Urwald“ vor der Phantasie schweben! Nur die im Norden Deutschlands einheimischen Waldbäume trifft man im Walde von Bialowicza an, und auch diese nicht einmal alle. So fehlt z. B. die Rothbuche (fagus sylvatica) gänzlich.[1]

Dafür aber erreichen die andern Bäume, ganz besonders die Kiefer, auf feuchten Stellen die Fichte, und von Laubhölzern die Eiche, die Linde, Hainbuchen, Birken, Ellern, Pappeln und Weiden ein unerhörtes Alter, eine an das Wunderbare grenzende Höhe und eine kolossale Stärke. Alle diese Holzarten kommen in der buntesten Vermischung vor, und finden sich von der verschiedensten Altersstufe und dem ungleichsten Umfange dicht neben einander. Hier hat ein Sturmwind mehrere alte Riesenstämme entwurzelt und zu Boden geschleudert. Wo sie hinstürzen, da sterben und verwesen sie auch! Ueber ihnen aber erheben sich Tausende von jungen Stämmchen, die im Schatten der alten Bäume nicht gedeihen konnten, und nun im regen Wetteifer nach oben streben, nach Luft, nach Licht, nach Freiheit. Ein jedes sucht sich zur Geltung zu bringen, aber doch können nicht alle das Gleiche erreichen. Bald zeichnen sich einige vor den andern aus, und einmal erst mit dem Kopfe oben, fangen sie an, sich breit zu machen, wölben eine prächtige Krone, und unterdrücken erbarmungslos die schwächeren Pflanzen, die nun traurig zurückbleiben und verkümmern, – denn hier heißt es gerade umgekehrt wie der Dichter singt: „Nicht Raum für Alle hat die Erde!“ Aber auch diese übermüthig Emporstrebenden werden einst in das Greisenalter treten, auch ihre Wurzeln werden von den Stürmen gelockert und herausgerissen werden, bis auch über ihren Sturz Freude unter dem jungen Nachwuchs sein wird, und dasselbe Spiel, derselbe Kampf beginnt.

Außerhalb der gebahnten Wege, welche der Jagd wegen in Ordnung gehalten werden, ist der Wald kaum zu betreten, nicht einmal an Stellen, wo die Bäume lichter stehen, da gerade dort ein dichter Unterwuchs von allen möglichen Straucharten wuchert. An andern Stellen hat der Sturm Hunderte von Bäumen umgebrochen, die so verworren über und untereinander liegen, daß selbst das Wild Mühe hat, sich durchzuarbeiten. Ab und zu gewahrt man allerdings bedeutende Lichtungen durch das Dickicht des Waldes schimmern. Schon glaubt man an der Waldesgrenze zu sein, oder doch eine Dorfschaft vor sich zu haben, – aber wenn man auf eine solche Lichtung zuschreitet, gewahrt man, daß sie ihre Entstehung einem Waldfeuer zu verdanken hat, welches sich in kurzer Zeit dies ungeheure Loch fraß, und dann genug hatte – denn menschliche Kräfte vermögen wenig oder nichts über die Gewalt des Feuers in diesen Riesenwaldungen. Alle acht bis zehn Jahre kommt durchschnittlich ein Brand von dieser Ausdehnung vor, – kleinere Waldbrände aber sind ganz an der Tagesordnung.

Der neueren Zeit, der Zeit des Dampfes und der Elektricität wird die Eigenthümlichkeit des Bialowiczaer Waldes kaum noch lange widerstehen! Vielleicht sehen wir schon nach wenigen Decennien daselbst eine regelmäßige Forstwirthschaft eingeführt, welche die ungeheuren Schätze, die der Natur dort noch abzuringen sind, der Krone Rußlands nutzbar machen wird.

So segensreich die Zugutemachung des Holzes für die ganze Umgegend von Bialowicza auch sein würde, – ein Stand würde dies doch aufrichtig beklagen. Ich meine die Jäger. Der Bialowiczaer Wald ist unseres Wissens der einzige Zufluchtsort und Sammelplatz von jagdbaren Thieren, welche außerdem in Europa theils gar nicht mehr, theils sehr vereinzelt auftreten, ja die man in solcher Anzahl und solcher Verschiedenheit in unserm Welttheile sicherlich nicht zum zweiten Male beisammen findet! Bei der zunehmenden Cultur, bei der nothwendig damit Hand in Hand gehenden Zunahme der Bevölkerung würde dieser echte „Thiergarten“ völlig vernichtet werden. Seine Bewohner würden die gestörte Ruhe und Abgeschiedenheit ihres Aufenthaltsortes schmerzlich vermissen, zum Theil freiwillig das Weite suchen, zum Theil vertrieben und ausgerottet werden, wie wir das überall gesehen haben, wo größere Waldungen dem Fortschritte der Civilisation dienstbar gemacht wurden!

Und was der Bialowiczaer Wald für den Jäger, d. h. für den wahren, tüchtigen, in allen Wildarten gerechten Waidmann, in seiner jetzigen, noch fast ursprünglichen Verfassung bietet, das wird aus dem Folgenden genugsam hervorgehen.

An Wildarten finden wir daselbst vor allen den Auerochsen (Urochs oder Bison), den Elenhirsch in großer Zahl, obwohl nur im Winter, da er im Sommer die benachbarten Brüche aufsucht, und den Bären in drei verschiedenen Gattungen. Sind das nicht schon drei Achtung erweckende Namen? Von den letztgenannten ist der mittelgroße braune am häufigsten, seltener der große schwarze und der kleine silbergraue. Der schwarze Petz lebt ausschließlich von Vegetabilien und Honig, doch sind auch die beiden andern nicht so furchtbar, als gemeinhin angenommen wird, da sie fast nur gefallenes Wild zerreißen, selten oder nie gesundes, und den Menschen nur in der Nothwehr angreifen. Roth- und Damwild ist sonderbarer Weise gar nicht vorhanden, und das Reh kommt verhältnißmäßig nur selten vor, vermuthlich wegen der Menge reißender Thiere, die ihm nachstellen. Schweine leben immer in Rotten von fünfzig bis sechzig Stück beisammen; Dachsbaue sind aller Orten zahlreich, und an Hasen, den gewöhnlichen, so wie den weißen, ist kein Mangel.

Der Wolf ist stark vertreten, und zwar findet er sich von der größten, fünf bis sechs Fuß langen Art. Er ist der Jagd sehr schädlich, da er den Wildkälbern nachstellt und jährlich eine bedeutende Menge derselben seinem Heißhunger opfert. Im Winter, und besonders wenn ein stärkeres Rudel – oft dreißig bis vierzig Stück – beisammen ist, wagt sich der Wolf sogar an Auerochsen und Elen, die er so lange umherjagt, bis es ihm gelingt, ein Stück von der Heerde abzutreiben, das dann stets sicher seine Beute wird.

Noch gefährlicher als der Wolf ist in dieser Beziehung der Luchs, der im Bialowiczaer Walde keineswegs fehlt. Er hält sich fast immer an den Waldsäumen auf, und lauert dort, zusammengekauert auf einem starken Baumast, auf das arglos vorüberschreitende Wild. Mit einem gewaltigen Satz stürzt er sich auf dasselbe, und tödtet es, indem er ihm die Kehle zerbeißt. Diese Methode gelingt ihm selbst bei größeren Thieren, besonders aber bei den Rehen. Springt er aber einmal fehl, so macht er keine Anstalt, das flüchtige Thier zu verfolgen, sondern sucht sich mürrisch einen andern Hinterhalt, in der Voraussicht, daß der nächste Angriff einen glücklicheren Ausgang haben werde.

Alle Arten von Wieseln und Mardern, früher auch der Zobel, die wilde Katze und natürlich Füchse, sind in Menge

  1. Die Rothbuche findet sich schon in Ostpreußen, jenseit des Pregel-Stromes, nur noch auf einigen wenigen Revieren.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_726.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)