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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Wagen in den Gasthof mehr tragen als führen mußte. Sie war trotz ihres Leidens bildschön gewesen. Die zweite Tochter, ein sanftes, reizendes Kind von elf Jahren, war weinend neben der Schwester hergegangen. In das Fremdenbuch hatte der Herr den Namen Krajewski, Particulier aus Polen, eingeschrieben. Alle drei sprachen deutsch.

Die ältere Tochter war noch in derselben Nacht ernstlich erkrankt. Man hatte zu einem Arzt schicken müssen. Bevor der Arzt zu der Kranken eingetreten war, hatte er eine mehr als halbstündige geheime Unterredung mit dem Vater, dem Herrn Krajewski, gehabt. Nachdem er sodann die Kranke untersucht, hatte er den Ausbruch eines heftigen Nervenfiebers angekündigt. Von einem Weiterreisen der Familie konnte nicht die Rede sein. In den ersten sechs Wochen, erklärte der Arzt, sei in der strengen Winterzeit und in dem rauhen Gebirgsklima nicht daran zu denken, vielleicht gar vor dem Eintritte des Frühlings nicht. Das Nervenfieber nahm seinen regelmäßigen Verlauf, nach der Versicherung des Arztes wenigstens. Denn außer ihm kam kein Fremder zu der Kranken. Der Vater und die Schwester besorgten ihre Pflege. Der Arzt war ein alter, würdiger, verschwiegener Mann.

Es müsse da ein Geheimniß vorliegen, meinten die Einwohner des Städtchens. Der Arzt erklärte Alles natürlich. Auffallend blieb es dennoch, daß man die Kranke in ihrem Fieber oft laut und anhaltend wehklagen, jammern, weinen und dann plötzlich kurze, heftige Schmerzensschreie ausstoßen hörte. Wer das namentlich in der Nacht hörte, dem wollte es beinahe das Herz zuschnüren. Es seien das Fieberparoxysmen, erklärte der Arzt.

Aber sechs, acht Wochen waren vergangen; das Fieber war längst verschwunden; die lange anhaltenden Klagetöne vernahm man gleichwohl noch manchmal durch die Stille der Nacht, wenn sie auch weniger laut waren, und selbst die kurz abgestoßenen, durchdringenden Schmerzensrufe wollten einzelne Personen ein paar Mal wieder gehört haben. Und als das Frühjahr kam – die Familie hatte in der That während des Winters an die Weiterreise nicht denken können – und der Vater die Genesene oder Genesende draußen in die warmen, erquickenden Strahlen der Frühlingssonne führte, glaubten die, die in das furchtbar bleiche, schöne Gesicht der hohen und fast zerbrochen gebeugten Gestalt sahen, darin mehr als die Spuren einer schweren körperlichen Krankheit, glaubten sie darin die Zeichen einer tiefen Krankheit des Gemüths und in dem manchmal wilden Blitzen und Glühen der Augen gar den Ausdruck eines Irrsinns des Geistes zu entdecken. Das finstere Gesicht des Vaters, der die Tochter führte, blieb unbeweglich. Die jüngere Schwester, die schweigend folgte, schien alle ihre Kraft aufbieten zu müssen, um ihre Thränen zurückzuhalten. Was war der eigentliche Grund des schweren Leides der Familie? Der Arzt blieb stumm, wie das Grab. Sie selbst sprachen mit Niemandem, als dem Arzte.

Der Frühling des Jahres 1807 war ein milder, warmer geworden. Auch um das kleine Landstädtchen breitete er rund umher auf Bergen und Hügeln seinen grünen Waldesschmuck, die bunte Pracht und den süßen Duft seiner Blüthen aus. Das Städtchen lag in einem abgelegenen, verborgenen, wilden Thale. Im Frühlingsschmucke ist das wildeste Thal das reizendste. Für eine Genesende ist die stillste Natur die wohlthuendste. „Ich möchte hier bleiben,“ hatte die kranke Tochter zu dem Vater gesagt. Dem finsteren, ewig schweigsamen Manne war ein Stein vom Herzen gefallen. Fünf Minuten vor dem Thore der Stadt stand ein Landhaus zum Verkauf. Er kaufte es für den Preis, den man forderte. bezahlte ihn baar. So war er geblieben.

Die Aeltere genas, aber ihre hohe Gestalt blieb gebeugt, ihr feines Gesicht bleich und eingefallen. Der irre Blick der Augen verlor sich, aber ihr dunkles, wildes Glühen konnte den, der es noch manchmal sah, mit einem unheimlichen Schauder erfüllen. Die jüngere Schwester war zur schönen Jungfrau, zu jenem Engel an weicher Milde emporgeblüht. Der Vater war finsterer, schweigsamer, menschenscheuer geworden. Auf ihm besonders, auf ihm am schwersten und drückendsten mußte das Geheimniß und das Unglück der Familie lasten.

Was dieses Unglück war, blieb ein Geheimniß. Der alte Arzt war gestorben, als treuer, verschwiegener Freund. Was er wußte, hatte er mir sich in das ewig stumme Grab genommen. Der Vater, der Greis, hatte seit dem Tode des Arztes mit Niemandem Umgang. Die ältere Tochter hatte immer die Menschen mehr gemieden, als er. Die Jüngere hatte ihrer Erziehung und Ausbildung wegen dem Verkehre mit der Welt nicht ganz entzogen werden können, aber nie hatte sie ein Wort über ihr Haus, ihre Familie und ihre Verhältnisse gesprochen. Nicht gegen ihre Freundinnen, an wie wenige sie sich auch angeschlossen hatte, nicht gegen einen edlen, jungen Mann – doch über diesen noch einige Worte.

Die jüngere Tochter des Gutsbesitzers Krajewski zeichnete schon in ihrem siebzehnten Jahre durch ihre weiche, feine Schönheit sich aus. Sie wurde der Gegenstand der Aufmerksamkeit der jüngeren Beamten der Stadt und der Officiere der Garnison. Die Beamten waren Deutsche, die Officiere Franzosen. Das junge Mädchen achtete nicht auf die Einen und nicht auf die Anderen. Sie vermied sie Alle. Nur ein Einziger durfte sie grüßen, und sie erwiderte seinen Gruß. Es war ein junger Advocat an dem Districtstribunale. Anfangs hatte sie auch ihn nicht beachtet. Aber da hatte sie sich eines Tages mit der Rückkehr aus der Zeichenstunde, die sie bei einem Lehrer in der Stadt hatte, verspätet. Das Halbdunkel des Abends war schon eingetreten, als sie das Thor der Stadt verließ. In der Stadt hatte sie hinter sich einen Schritt gehört, der immer in gleichmäßiger Entfernung von ihr blieb, der sie zu verfolgen schien. Sie war allein, sie sah keinen Bekannten auf der Straße und wagte auch nicht, sich umzusehen. Sie beeilte nur ihre Schritte. So verließ sie die Stadt und erreichte die menschenleere, dunkle Landstraße. Der verfolgende Schritt war hinter ihr geblieben. Sie verdoppelte die ihrigen, aber trotzdem konnte sie ihm nicht entgehen, nach einer Minute hatte er sie erreicht.

In der Stadt und ihrer weiteren Umgegend war ein Regiment stationirt. Der Oberst mit den meisten Officieren befand sich in der Stadt. Der frivolste und frechste Officier des Regiments war der Adjutant des Regiments. Er war der Neffe und der Liebling seines Obersten, der ihm Alles nachsah. Der Oberst war der höchste Befehlshaber in der Stadt und Umgegend, dem Alles gehorchte, auch die Verwaltung, auch die Gerichtsbehörden. Er war Franzose, sie waren Deutsche, die den Franzosen dienten.

Der Regimentsadjutant war an der Seite des jungen Mädchens. Er war frech und frivol wie immer. Er nahm mit Gewalt ihren Arm und wollte sie in eine enge, dunkle Straße führen, die sich von der Landstraße seitwärts zwischen die Gärten vor der Stadt zog. Sie war vom Schreck gelähmt und konnte ihm nicht entfliehen, sie konnte sich nicht gegen ihn wehren. Sie wollte laut um Hülfe rufen, aber sie vermochte es nicht. Der Schrei wurde ein ersticktes Stöhnen.

„Sie sind so erschrocken, mein Kind,“ höhnte der freche Franzose sie. „Ein Spaziergang in dieser herrlichen Abendluft wird Ihnen den Muth wiedergeben. Kommen Sie! Und vor Allem lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich Sie anbete.“

„Hülfe! Hülfe!“ wollte sie noch einmal rufen.

„Ich verschließe Ihren schönen Mund mit Küssen,“ drohte der Franzose.

Aber eine Hülfe für das arme Kind war schon da.

„Sie sind ein Elender, mein Herr!“ rief unmittelbar hinter ihr eine Stimme.

Der Arm des Officiers wurde von einer kräftigen Hand aus dem ihrigen gerissen. Mit flammenden Blicken stand ein junger Mann zwischen ihr und dem Franzosen. Es war ein junger Advocat des Districtstribunals, der ihr öfters, und wie oft geflissentlich, begegnet war, der aber immer nur stumm und ehrerbietig sie zu grüßen gewagt hatte. Der Officier sah ihn wüthend an.

„Mein Herr, Sie wagen es –“

„Sie einen Elenden zu nennen, mein Herr, und Sie aufzufordern, sofort diese Dame zu verlassen.“

„Mein Herr, Sie verdienen Züchtigung.“

Der Franzose war bewaffnet, er faßte den Griff seines Degens.

Der junge Advocat war ohne jede Waffe. Desto größer und edler war sein Muth.

„Mein Herr,“ sagte er ruhig, „Sie sind von mir beleidigt, ich habe Sie einen Elenden genannt. Ich bin ein Mann von Ehre. Sind auch Sie es, so wissen Sie, welche Genugthuung Sie von mir zu fordern haben. Sollten Sie es nicht wissen, so weiß Ihr Officiercorps Ehre und Feigheit von einander zu unterscheiden.“

Der Franzose knirschte mit den Zähnen, aber er ging.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 772. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_772.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)