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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

viele, viele Jahre früher, als es nöthig wäre, in’s Grab stürzt. Wenn solche respiratorscheue Selbstmörder dann den Tod heranrücken sehen, so jammern und wehklagen sie ganz ungerechter Weise über ihr Unglück, nicht aber über ihren Unverstand, der das Unglück herbeizog; ja sie höhnen wohl gar die medicinische Wissenschaft, weil sie ihnen neue Lungen einzusetzen nicht vermag. Tod und Verderben und nebenbei noch meine Verachtung jedem Lungenkranken, der bei rauher kalter Witterung nicht einen Respirator trägt, vorausgesetzt nämlich, daß ihm an seinem Leben etwas liegt.

Was müßte man denn nun eigentlich von einem Mittel, welches die Lungenschwindsucht curiren soll, verlangen? Diese Frage läßt sich aus dem, was die Wissenschaft über diese Krankheit weiß und was im Jahrgange 1855, Nr. 15 der Gartenlaube ausführlich besprochen wurde, dahin beantworten: entweder muß das Mittel die eben im Gange befindliche Absetzung von Tuberkel- (oder Schwindsuchts-) Materie, die in der Regel mit hitzigem Fieber (sehr beschleunigtem Pulse und erhöhter Hautwärme) einhergeht, sofort zum Stillstand bringen, oder hatte dies (wie wohl immer) die Natur schon gethan, so mußte es einen spätern Nachschub von Tuberkelmasse (also einen neuen Anfall von Tuberkelabsetzung) ganz und gar verhindern. Das Unschädlichmachen der schon in die Lungenspitzen abgesetzten Tuberkelmasse besorgt stets die Natur, dazu haben und brauchen wir kein Hülfsmittel. Es thut dies die Natur hauptsächlich mit Hülfe zweier Entzündungsprocesse, nämlich der Brustfell- und der Lungenentzündung, welche der unwissenschaftliche Arzt gern wegcuriren möchte. Glücklicherweise mißglückt aber dieses unglückselige Vorhaben stets, und deswegen können Schwindsüchtige, die sich eigentlich über stechende Schmerzen auf der Brust freuen sollten, so lange am Leben bleiben.

Die im Gange befindliche Absetzung von Schwindsuchtsmasse in das Lungengewebe eher zum Stillstand zu bringen, als dieser Krankheitsproceß sein naturgemäßes Ende erreicht hat, vermag nun Anacahuite ebenso wenig, als irgend eine andere Arznei oder Heilmethode. Hierbei bleibt das einfachste diätetische Verfahren sicherlich auch das vortheilhafteste; dies aber besteht nur in der allergrößten (körperlichen, geistigen, gemüthlichen und geschlechtlichen) Ruhe, sowie im Einathmen einer ganz reinen, warmen Luft bei mäßig nahrhafter, leichtverdaulicher Kost. Hinsichtlich der Luft wird am meisten gefehlt, denn anstatt den Patienten im größten, schönsten, hellsten, gutgelüfteten und behaglich warmen Zimmer und im Bette zu finden, trifft man ihn sehr oft in einem kleinen, düstern, kühlen, ungelüfteten Raume, dessen Luft nach alter Wäsche, Schweiß, Excrementen aller Art und fauligem Auswurfe stinkt. Das Ausgehustete sollte, wenn’s denn einmal im Krankenzimmer aufbewahrt werden muß, stets in einem gutverschlossenen Gefäße bleiben, damit die bei seiner Fäulniß entstehenden übelriechenden und dem Athmungsorgane nichts weniger als zuträglichen Gase die Zimmerluft nicht verunreinigen können. Kurz, eine reine warme Luft im reinen Zimmer ist das Haupterforderniß bei allen Brustaffectionen.

Wie durch Anacahuite aber ein Schwindsuchtsnachschub, der bei Brustkranken bald in kürzerer, bald in längerer Zeit, nicht selten aber (wenn die zuerst abgelagerte Tuberkelmasse veraltet) auch gar nicht wiederkehrt, ganz und gar verhütet werden könnte, das mag ein Anderer erklären. Verfasser würde an dieses Wunder erst dann glauben, wenn viele hundert anacahuitete Lungensüchtige früher oder später an einer andern Krankheit als an Lungentuberculose untergingen. Bis das nicht geschehen ist, gebe ich meinen Leidensgefährten den Rath: bei Vermeidung von Blutandrang nach der Lunge (also Meiden einer rauhen und kalten, staubigen und rauchigen Luft, sowie von Erkältung und Allem, was starkes Herzklopfen macht) den Ernährungszustand ihres Körpers ordentlich zu besorgen, d. h. durch richtiges Essen und Trinken, zweckmäßiges Athmen guter Luft, passende Bewegung und gehörige Ruhe ein gutes nahrhaftes, flott circulirendes Blut zu erzeugen. Eine Menge von Brustkranken kommen aus lauter Feigheit, aus Angst vor dem Tode, zu keinem Wohlbefinden; ein Nachtschweiß, einige stärkere Hustenanfälle, etwas Blut im Ausgehusteten, ein paar Bruststiche setzen ihr feiges Herz in den größten Alarm, dieses pumpt dann ganz natürlich eine unnütze Menge von Blut in die Lungen, und so kann es allerdings zum frischen Erkranken dieses schon kranken Organes kommen. Eine andere Sorte von Brustkranken läßt, um einfältiger Weise jede Spur eines Brustleidens an sich getilgt zu sehen, fortwährend an ihrem Corpus herumquacksalbern, gebraucht jeden neuauftauchenden (arzneilichen, gymnastischen, elektromagnetischen und sympathetischen) Schwindel, jagt aus einem Welttheile in den andern, stiehlt alten Jungfern dicke Möpse und verspeist deren (nämlich der Möpse) Fett auf Leberthran-Bemmen mit Heringsmilch, nimmt nach dem lebensmagnetischen Hahnemann II., Herrn Dr. Lutze, Kohle in der 10. Verdünnung, wenn seine rechte Lunge, kohlensauren Kalk aber, wenn die linke leidet, oder probirt unter Leitung eines echten Vollblut-Homöopathen die gegen Lungensucht als Hauptmittel empfohlenen etwa 30 Nichtse dem Alphabete nach durch; kurz macht eine Lächerlichkeit und Dummheit über die andere, und warum? nur um unerhebliche und unhebbare Beschwerden (Husten mit oder ohne Auswurf, kurzen Athem, Drücken auf der Brust, Magerkeit etc.) los zu werden.

Da bleibt freilich nur ein Trost: mit Brustkranken kämpfen Götter selbst vergebens, also warum nicht auch

Bock.




Das unterirdische Paris.
Von Friedrich Oetker.

„Es ist schwer, die Unterwelt zu besuchen.“ Auch in Paris werden Einem große Schwierigkeiten gemacht, wenn man die Wunder der Tiefe betrachten möchte. Bloße Neugier ist keineswegs eine genügende Einlaßkarte. Zum Glück besann ich mich, daß ich in Kassel einmal Stadtrathsmitglied gewesen war und in dieser Eigenschaft die Verpflichtung gehabt hatte, mich dann und wann mit ober- und unterirdischem Unrath zu befassen. Ich unterließ daher nicht, diesen Umstand bei der Pariser Oberbehörde gehörig hervor zu kehren, und hatte nun das Vergnügen, daß sofort meine „ernsten Ziele“ gewürdigt und die unwillfährigen Reinlichkeitsbeamten des Service de la salubrité in die artigsten und zuvorkommendsten Wegweiser umgewandelt wurden.

Es ist bekannt, daß Paris seinem uralten Namen Lutetia, oder Schmutzloch, noch vor wenigen Jahren alle Ehre machte. Die Straßen waren wahre „Kothgassen“, die Abzugsrinnen der Sammelplatz alles Unflaths; an vielen Stellen verbreiteten sich unaufhörlich, bei gutem wie bei schlechtem Wetter, die schauderhaftesten Ausdünstungen; auf Schritt und Tritt war man von der ärgerlichsten Besudelung bedroht.

Das hat sich wunderbar geändert. Nicht blos in den weiten Straßenzügen, welche die neuere und neueste Zeit geschaffen hat, herrscht spiegelblanke Sauberkeit, auch in den engen Windungen der alten Stadtheile ist mit geringen Ausnahmen eine musterhafte Reinlichkeit hergestellt worden. Trittsteine, bedeckte Abzüge, eiserne Ausgußröhren, Spühlkrähne und sonstige Vorrichtungen haben wahrhaft Erstaunliches geleistet; es gibt einzelne Gassen, die früher kaum in Stiefeln zu durchwaten waren, die aber jetzt, mit Canälen versehen und mit Asphalt gepflastert, den zartesten Seidenschuhen zugänglich sind.

In der That, die letzten Jahre haben das Ungeheuerste, das Außerordentlichste zu Wege gebracht. Es ist keine Uebertreibung, wenn man behauptet, daß die Regierungszeit Napoleons III. für die Verschönerung und Vergesünderung von Paris mehr gethan hat, als alle früheren Herrscher und Regenten zusammengenommen. Ganze Stadttheile sind weggerissen oder in ihrem engsten, winkligsten Häusergedränge durchbrochen worden, um für weite Plätze und breite, baumbepflanzte, bankbesetzte Straßen und Spaziergänge Raum zu schaffen. Die Verbindung des Louvre mit den Tuilerien, die Verlängerung der Kais und der Rivoli-Straße, die Ausschälung des Stadthauses und des St. Jakobsthurmes aus den alten Häusermassen, die Verschönerung des Boulogner Gehölzes und seine Verbindung mit der Stadt, die Anlegung der Boulevards

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_775.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)