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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

daß er sich selbst wie im Angesicht einer Gefahr, einer entsetzlichen Entscheidung fühlte, daß er aber auch selbst fürchtete, nicht den Muth zu besitzen, dessen er bedurfte. Sie durfte seine Verwirrung nicht vermehren.

Aber was war es, was dem hohen Greise den Muth nahm, seine Ehre, selbst die Ehre seiner Tochter zu schützen? Eine Todesangst hatte sie gefaßt. Sie zitterte heftiger als er. Ihre Füße versagten ihr fast den Dienst. Die Officiere kamen ihnen näher.

„Ja, ja, sie ist es wirklich!“ rief einer der Betrunkenen.

„Die Mörderin des armen Delaparte.“

Die Anderen wollten ihm Schweigen gebieten.

„Was wollt ihr?“ rief er lauter. „Warum soll es die Welt nicht wissen, daß sie die Mörderin ist? Er ist todt, sie leben; he Mademoiselle –“

Sie standen keine fünf Schritte mehr von einander, der Betrunkene mit seinen Begleitern, der Greis mit seiner Tochter. Das Mädchen mußte sich krampfhaft an dem Vater festhalten. Sein Gesicht war mit Schweiß bedeckt. Der Betrunkene wollte auf das Mädchen losstürzen. Seine Cameraden suchten vergebens ihn zu halten. Etwas Anderes hielt ihn. Aus der Biegung der Landstraße kam in Galopp ein Reiter herangesprengt. Er mußte das laute, tobende Rufen des Betrunkenen vernommen haben.

„Der Oberst!“ riefen die Officiere. Sie standen wie erstarrt, selbst der am meisten Betrunkene. Es war ihr Oberst. Er sprengte an sie heran und maß sie mit dem Blicke der strafenden Entrüstung des Vorgesetzten.

„Meine Herren, Sie verfügen sich sofort sämmtlich zum Arrest.“

Die Officiere kehrten gehorsam und schweigend zu der Stadt zurück. Der Oberst wandte sich an das junge Mädchen.

„Mein Fräulein, die Schuldigen werden bestraft werden, nach der strengsten Strenge der Gesetze, aber es ist das nur eine geringe Genugthuung für die Armee des Kaisers, für den französischen Namen. Für Sie, mein Fräulein, habe ich nur Eine Genugthuung, die Bitte an Ihr edles Herz, die Rohheit, die jene Elenden gegen Sie gezeigt haben, mir, ihrem Vorgesetzten, verzeihen zu wollen.“

„O, mein Herr, ich verzeihe Allen!“ preßte das weinende Mädchen hervor.

„Sie sind ein Engel an Güte und Bravheit des Herzens.“

Er zog seinen Hut tief vor ihr; dann gab er seinem Pferde die Sporen. Von ihrem Vater hatte er keine Notiz genommen. Nicht sein flüchtigster Blick hatte ihn gestreift. Doch indem er sein Pferd weiter in Bewegung setzen wollte, kehrte er sich nach dem Greise um, aber mit einem Blicke der unbeschreiblichsten Verachtung. So sprengte er davon. Die Tochter hatte den Blick nicht gesehen. Wohl ihr! Der alte, finstere Mann aber war zusammengebrochen. Er mußte sich auf einem Steine, der an der Straße stand, niederlassen, um Kräfte zum Weitergehen zu sammeln. Auf dem Wege sprach er kein Wort mehr. Zu Hause mußte das Mädchen ihm erzählen. Er hörte ihr still zu und er blieb auch den ganzen Abend stumm. Er schien einen Entschluß zu suchen. Am andern Morgen hatte er ihn gefunden. Er ging zu dem Advocaten Rohden. Er hielt sich höher aufrecht, als man ihn je gesehen hatte. Seine Augen zeigten eine stille Wehmuth. Er drückte dem jungen Advocaten die Hand.

„Mein Herr, ich habe gestern gehört, was Sie für mein Kind gethan haben; ich kann mich seit gestern bei dem Namen eines Deutschen wieder erheben.“

„Und Sie sind selber ein Deutscher?“ fragte ihn der junge Mann.

Der Greis bebte bei der Frage. „Ja!“ sagte er leise.

Dann nahm er wieder die Hand des Advocaten. Er hatte noch etwas auf dem Herzen. „Mein Herr! nebst meinem Danke hat mich eine Bitte zu Ihnen geführt.“

„Sprechen Sie sie aus, mein Herr.“

„Ich stehe nicht weit mehr vom Grabe. Nach meinem Tode sind meine beiden Töchter in der Welt völlig allein. Ich habe in Ihnen den Mann gefunden, dem ich sie anvertrauen kann. Darf ich sie Ihnen anvertrauen?“

Das Gesicht des jungen Advocaten war von einer dunklen Gluth übergossen.

„Mein Herr,“ rief er, „ich werde keine heiligere Pflicht kennen, als die Sie mir da anvertrauen wollen.“

Da athmete der Greis tief auf, wie aus einer plötzlich von einer schweren Last erleichterten Brust. „O, jetzt wird der Tod mir Befreiung sein!“

Er schien wirklich seit der Zeit ruhiger und freier zu sein. Finster und schweigsam blieb er immer. Momente eines tiefen, die Brust ihm durchwühlenden Grames ergriffen ihn auch noch. Aber der ewig schwere Druck, der früher ihn niedergebeugt hatte, lastete mit jener Schwere nicht mehr auf ihm.

Der Advocat Rohden durfte fortan sein Haus besuchen. Die sämmtlichen Officiere, die an jenem Ueberfalle Theil genommen hatten, waren vom Regiment entfernt worden.




3. Die Schwestern.

Wir müssen zu dem Anfange des vorigen Capitels zurückkehren. Die beiden Schwestern saßen beisammen, Melanie, die ältere kränkliche, Elvire, das weiche Kind von achtzehn Jahren, die in das goldene Alter der Jungfrau mehr unter Thränen und Sorgen, als unter Lachen und Spiel eingetreten war. Der Tag neigte sich. Man hatte durch die Fenster des Wohnzimmers den Anblick des benachbarten Gebirges. Die letzten Strahlen der Abendsonne färbten den herbstlich gelben Gebirgswald dunkler. Es war behaglich in der hellen Stube. Auch die Kälte des anbrechenden Octoberabendes war nicht hineingedrungen. Die ältere Schwester hatte sich dennoch in einen dichten wollenen Shawl eingehüllt. Sie fror. So saß sie auf dem Sopha, mit den großen schwarzen Augen in einen dunkler und dunkler werdenden Winkel des Gemachs hinein starrend. Die Jüngere saß mit einer Arbeit am Fenster. Sie war indeß nicht bei der Arbeit, sondern sah unruhig auf die vorüberführende Landstraße hinaus.

„Wo der Vater heute bleiben mag? Er hat sich noch nie so verspätet.“ Sie sagte es mehr für sich, als zu der Schwester. Diese hatte dennoch darauf geachtet.

„Wo er bleibt?“ sagte sie. „Ich sehe ihn. Er ist in der Tiefe des Waldes und kehrt schwer belastet von einem neuen Unglück nach Hause zurück. – Wie er keucht unter der Last dieses neuen Unglücks!“

Sie sprach ebenfalls mehr für sich, langsam, abgebrochen, mit hohl klingender Stimme. Ihr starrer Blick war unheimlicher geworden, er schien den dunklen Winkel durchbohren zu wollen.

Die jüngere Schwester seufzte leise vor sich hin und sah mit einer scheuen Besorgniß zu ihr hinüber. „Die Unglückliche!“ sagten mehr ihre Augen, als ihre Lippen. „Sie war lange ruhig. Sollte es jetzt wieder schlimmer mit ihr werden? Und sollte gar wirklich ein Unglück wieder herannahen wollen? Auch damals war sie so, zur Zeit jener entsetzlichen Geschichte – Melanie!“ sagte sie beruhigend. Die Kranke schreckte auf.

„Ha, Du, Elvire!“ Dann wurde der irre Blick auf einmal trübe. „Auch Du! Auch Du! Für Dich thut es mir weh. Du bist noch so jung. Du solltest glücklich werden können! Aber es faßt auch nach Dir. Es hat Dich schon.“

Elvire war aufgestanden und trat zu der Schwester.

„Gib die Träume auf, Melanie. Komm, steh’ auf. Es ist kalt in der Stube; auch mich friert. Gib mir Deinen Arm; wir spazieren durch die Stube, so erwärmen wir uns.“

„Dich friert?“ sagte die Kranke. „Mir ist heiß.“

Sie wickelte sich fester in ihr wärmendes Tuch. Dann fuhr sie fort: „Den Armen friert. Er hat Hunger und Kälte. Das Unglück brennt, verzehrt mit wilder Gluth. Geld haben wir, ja, aber auch das Unglück haben wir, und wir haben es uns selbst herbei gerufen. Auch für Dich, Du armes Kind. Und dem Unglück ruft man nicht vergebens. Es kommt –! Horch! Es klopft von selber an – Horch! Horch!“

An die Thür der Stube wurde geklopft. „Horch!“ wiederholte die Kranke.

Elvire war bleich geworden. „Wer mag da sein?“

„Das Unglück!“ rief die Kranke.

Es wurde zum zweiten Male geklopft.

„Herein!“ mußte Elvire rufen.

Die Thür öffnete sich. Ein Unterofficier von der französischen Besatzung des Städtchens trat ein. Er trug ein kleines versiegeltes Schreiben, welches er der jungen Dame übergab.

„Von dem Herrn Obersten, an Herrn Krajewski. Der Herr Oberst schickt zugleich seine Complimente.“

Er entfernte sich wieder. Elvire hatte die Aufschrift besehen. Der Brief, oder vielmehr das Billet, war an ihren Vater. Die

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