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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

mit seiner Familie zu dem Balle einzuladen, welchen das Officiercorps der Garnison heute Abend um neun Uhr zur Feier des großen französischen Sieges bei Leipzig veranstaltet hat. Man hat das Vertrauen zu dem Patriotismus und zu der Treue und dem Gehorsam des Herrn Eingeladenen gegen unseren erhabenen Souverain, den Kaiser, daß er dieser Einladung gern Folge leisten wird.“

Elvire sah stumm ihren Vater an, nachdem sie zu Ende gelesen hatte. Er saß bewegungslos mit dem verhüllten Gesicht da.

„Wir gehen nicht hin, Vater!“ sagte das Mädchen. Sie sprach es halb entschieden, halb bittend.

Er antwortete nicht; er bewegte sich nicht. Rohden nahm ihre Hand und führte sie auf die Seite.

„Er ist in einem furchtbaren Zustande,“ flüsterte er ihr zu.

„So ist er immer, wenn von diesem Kriege, von Deutschland, von Franzosen gesprochen wird. Darum hatte ich Sie gebeten, nie mit ihm über die Zustände unseres Vaterlandes zu reden.“

„Ich hatte es geahnt, ich wußte es,“ sagte der Advocat für sich. „Und da liegt sein und der Familie Geheimniß.“

„Drängen Sie ihn nicht, Elvire,“ fuhr er zu dem Mädchen fort. „Hören Sie mir vorher zu. Wir sind in einer verzweifelten Lage, und ich bin Ihnen volle Offenheit schuldig.“

„Reden Sie,“ bat das Märchen.

„Der Oberst und die Behörden legen auf diesen Ball ein besonderes Gewicht. Sie haben ihn absichtlich und in böser Absicht veranstaltet. Der deutsche Geist, wie in ganz Deutschland, ist auch hier erwacht, unmittelbar unter der französischen Herrschaft selbst. Er konnte, daß er nicht in Thaten sich kundgab, nur durch den strengsten Terrorismus niedergedrückt werden. Dennoch war er unter den Siegen der Alliirten in Schlesien, in Brandenburg, in Sachsen lauter und lauter geworden. Unsere Unterdrücker begannen schon sich wie in fremdem Lande zu fühlen und in dem fremden Lande sich zu fürchten. Auf einmal heute die Siegesnachricht. Auf ihre Furcht folgt der Triumph, der Uebermuth und zugleich das Verlangen, Rache dafür zu nehmen, daß sie sich hatten fürchten müssen. Dafür morgen das Tedeum, heute dieser Ball. Wehe dem, der nicht erscheint! Gegen Ihren Vater, Elvire, hat man einen ganz besonderen Haß –“

„Wegen meiner –“ sagte das Mädchen.

„Nicht blos deshalb. Es ist auch noch ein anderer und wahrscheinlich viel dringenderer Grund da.“

„Welcher könnte das sein?“

„Ich weiß es nicht, nur der Oberst scheint ihn zu kennen, vielleicht auch der Oberprocurator. Ich habe nur wie von einem tiefen Geheimniß davon sprechen hören. Aber bestimmt wollte man dabei wissen, daß bei dem ersten revolutionären Symptome, das sich in der Bevölkerung zeige, Ihr Vater der Erste sein werde, den man vor ein Kriegsgericht stelle, um ihn zu erschießen.“

„Allmächtiger Gott!“ rief das zum Tode erblaßte Mädchen.

„Es ist so, Elvire, und ich mußte es Ihnen jetzt, bei dem Herannahen der Gefahr, sagen.“

„Was machen wir, Rohden?“

„Vor allen Dingen darf er kein Wort von dem erfahren, was ich Ihnen hier mittheilte; er würde sonst keine Wahl mehr haben.“

„Wir würden hin müssen. Aber müssen wir das nicht immer?“

„Erwägen Sie auch das Andere, Elvire, Ihre Lage.“

„Lassen Sie uns nicht an mich denken, mein Freund.“

„Ihre Lage ist zugleich wieder die Ihres Vaters. Das Officiercorps haßt Sie. Die Rache, die man an Ihnen nehmen will, hat bisher nur mühsam unterdrückt werden können. Wird sie in dem Uebermuthe des heutigen Abends nicht um so mehr, vielleicht um so roher sich Luft zu machen suchen? Und was wird dann Ihr Vater thun? Sie kennen seine Liebe für Sie, seinen Stolz, seinen heftigen, krankhaft heftigen Charakter.“

Das Mädchen stand in sprachloser Angst.

„Erwägen Sie dagegen freilich,“ fuhr der junge Mann fort, „daß mit Ihnen ich da sein werde, und daß Sie zu allernächst unter meinem Schutze stehen werden.“

Ein neues Entsetzen hatte die Arme erfaßt.

„Sie, Rohden? Ihr Leben sollte ich zum zweiten Male auf das Spiel setzen? Nimmer. Ich gehe nicht zu diesem unglücklichen Ball.“

„Und Ihr Vater dann, Elvire?“

Die Arme durfte nicht einmal laut weinen, damit ihr Vater es nicht hörte.

„O,“ schluchzte sie in ihr nasses Tuch hinein, „o, wohl hatte die arme Schwester Recht, mit jenem Briefe meldet sich das Unglück bei uns an; es ist jetzt da. – Was machen wir, Rohden?“ fragte sie dann, „rathen Sie.“

Der muthige, stets entschlossene junge Mann mußte sich doch besinnen. Aber nur einen Augenblick lang. Eine Gefahr war immer da; sein Muth und seine Ehre entschieden für die Gefahr, die auch für ihn da war; einer andern Stimme, als der des Muthes und der Ehre, gehorchte er nicht. Die Geliebte – das schöne, brave, junge Mädchen war ihm schon längst die Geliebte seines Herzens – sie war freilich mit in der Gefahr, die auch für ihn da war, nur um ihretwillen konnte er hinein gerathen. Aber er durfte das nicht weiter beachten.

„Wir gehen, Elvire, Sie, Ihr Vater und ich.“

„Auch Sie?“

„Ich führe Sie in den Saal.“

„Es muß so sein,“ sagte sie.

Sie drückte ihm die Hand. Er drückte sie ihr herzlich wieder. Der warme Druck goß Muth in ihr Herz. Mit Muth und noch immer mit Angst, und durch beide mit stiller, inniger Liebe blickte sie in seine Augen, die voll Liebe auf ihr ruhten.

Der junge Advocat hatte noch etwas auf dem Herzen.

„Ich habe Ihnen noch eine recht traurige Nachricht mitzutheilen, Elvire; Ihr Vater darf sie nicht erfahren.“

„Sie betrifft ihn, Rohden?“

„Sie betrifft ihn nicht; aber sie würde ihn gerade heute unangenehm berühren. Die Gensd’armen haben vor kaum einer halben Stunde einen preußischen Officier eingebracht, der die Grenze überschreiten wollte.“

„Einen preußischen Officier?“

„Einen vormaligen wenigstens.. Er war mit dem Schill’schen Corps gefangen genommen, in das Innere von Frankreich geschleppt und auf die Galeeren gebracht. Es war ihm geglückt zu entkommen, aber nur bis hier. Ein Zufall muß ihn verrathen haben. Seit gestern war die gesammte Gensd’armerie der Gegend zu seiner Verfolgung aufgeboten. Gerade an der Grenze hat man heute ihn ergriffen.“

Elvire war aufmerksam geworden, dann unruhig.

„Ein Officier des Schill’schen Corps?“

„So heißt es in der Stadt.“

„Haben Sie seinen Namen gehört?“

Er nannte einen Namen.

„Großer Gott!“ rief das Mädchen.

Die Arme mußte krampfhaft das Tuch vor den Mund drücken, um den Ausruf des Schreckens zu dämpfen.

„Sie wissen von ihm?“ fragte Rohden.

„Ich hoffe nicht.“

„Aber Sie erschraken!“

„Ich hatte den Namen von meiner Schwester gehört, in ihren Nervenanfällen, ohne nähern Zusammenhang. Aber der Name ist ein vielverbreiteter, auch in der preußischen Armee. Auf keinen Fall, Sie haben Recht, darf mein Vater von der traurigen Begebenheit hören. Lassen Sie uns zu ihm gehen.“

Sie kehrten zu dem Greis zurück; er daß noch immer mit verhülltem Gesichte da. Ein furchtbarer Schmerz mußte in ihm wühlen; ein schwerer Kampf war vielleicht hinzugetreten.

„Wir gehen zu dem Balle, Vater,“ redete ihn, mit ihrer weichen Stimme bittend, die Tochter an. „Rohden begleitet uns,“ setzte sie hinzu.

Er fuhr auf, er hatte ihre Stimme gehört, aber nicht ihre Worte.

„Was sagtest Du?“ fragte er.

„Wir gehen zum Ball,“ wiederholte sie, „Rohden wird uns begleiten.“

Einen Augenblick starrte er sie an. In seinem Innern wälzten und drängten sich Gedanken und Pläne. Auf einmal schien er etwas festzuhalten.

„Wir gehen!“ sagte er hastig. „Mache Dich fertig.“

Er verließ das Zimmer. Der Advocat sah ihm kopfschüttelnd, Elvire mit schwerer Sorge nach.

„Hätte ich es ihm nicht gesagt! Er hat etwas vor. Es gibt ein Unglück. Kassandra, Kassandra, ich glaube Dir.“

„Fassen Sie Muth, Elvire, ich verlasse Sie nicht.“


(Fortsetzung folgt.)

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