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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

No. 52. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die schwerste Schuld.
Von dem Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder.
(Schluß.)

Nach einer Pause fuhr der Gefangenwärter zu dem Soldaten gewendet fort: „So höre denn zuerst, daß ich ein alter preußischer Unterofficier bin, der mit bei Jena focht, aber nicht zu den Ausreißern gehörte, sondern schwer verwundet für todt auf dem Schlachtfelde liegen blieb und wie durch ein Wunder gerettet wurde. Ueberhaupt lag es nicht an den Soldaten, daß die Schlacht von Jena verloren wurde und der brave König von Preußen mit Weib und Kind wie ein armer gehetzter Flüchtling in der Welt herum irren mußte. Die Soldaten haben sich tapfer und muthig genug geschlagen. Aber die Generale und Officiere, bis zu den Lieutenants, sie, die Edelleute, die auch Deinen Vater nach Frankreich vertrieben haben, die haben auch ihren König in das Unglück gebracht und aus seiner Heimath und aus seinem Lande vertrieben. Die Soldaten haben auch nicht alle die schönen, großen, starken Festungen ohne Schwertstreich und Kanonenkugel dem Feinde übergeben. Elende, feige, verrätherische, vornehme Generale waren es. O Bursch, wenn ich daran denke, dann läuft mir noch immer alles Blut zum Herzen, daß ich meine, das alte Ding müsse mir zerspringen. Das war eine allgemeine Nichtswürdigkeit – nur den alten Blücher nehme ich aus und noch einige Wenige, die gegen all das andere vornehme Pack nicht aufkommen konnten. Aber ich wollte von etwas Anderem sprechen; das Alter macht geschwätzig, und ich habe lange nicht frisch von der Leber weg reden können. Von der jetzigen Zeit, mein Bursch. Sieh, jetzt sind sie vernünftiger geworden in Deutschland, auch der König von Preußen. Auf die Edelleute und Junker, die ihn damals verrathen und feige im Stiche gelassen haben, verläßt er sich nicht mehr; das Volk, sein braves preußisches Volk hat er angerufen, und das Volk hat sich überall zu ihm gestellt, und wo es mit ihm erschienen ist, da haben sie die Franzosen auf das Haupt geschlagen. Junge Burschen, die seit sechs oder vier Wochen die Muskete trugen, haben die alten, tapfern Garden des französischen Kaisers geschlagen und vernichtet. Ja, mein Bursch, diese Landwehren retteten Preußen und Deutschland. Mit der Landwehr wäre der König im Jahre 1806 Sieger geblieben; mit der Landwehr wird er jetzt die Franzosen zum Lande hinaus jagen; mit seiner Landwehr wird Preußen immer unüberwindlich bleiben. Aber mit seinen Junkern ist es schon einmal vernichtet und wird es immer zu Grunde gehen. – Ja, mein Sohn, mit der Landwehr werden die Franzosen aus dem Lande gejagt werden. Jetzt, in den nächsten Tagen. Vielleicht sind sie jetzt schon geschlagen und auf der Flucht, in diesem nämlichen Augenblicke, wo sie hier mit Ball und Tedeum und großer Parade einen Sieg feiern, an den ich nicht glauben kann. Ich verstehe auch noch etwas von dem Kriegshandwerk, und ich habe die Zeitungen studirt. Da konnte Napoleon vorgestern in einem einzigen Tage eine solche Armee, wie sie ihm bei Leipzig entgegen stand, nicht vernichtet haben, und wenn er es auch durch noch so viele Couriere aller Welt hat ansagen lassen. Es war nicht möglich, und gib Du Acht, mein Sohn, übermorgen vielleicht schon sehen wir flüchtige Franzosen hier, und mit oder gar vor ihnen die Kosaken, die schon vor drei Wochen in Kassel waren. Ja, mein Bursch, dann wird es wieder ein anderes Leben in unserem Deutschland geben. Ueber die Freiheit, über einen freien Mann geht doch nichts.“

Das kräftige Gesicht des alten Mannes erglühte, als er ausgeredet hatte. Er hatte sich erhoben und stolz und muthig aufgerichtet. Er war eine kräftige, militärische Gestalt, trotzdem daß der linke Arm ihm gelähmt herunter hing. Der junge Soldat mußte ihn fast ehrerbietig ansehen. Auch in ihm war ein Feuer entzündet.

„Warum habe ich nicht dabei sein können?“ rief er.

„Das ist eben Dein Unglück, Bursch.“

„Auch der arme Mensch, den wir hier bewachen müssen, hat wohl diese Freiheit gewollt.“

„Es ist möglich. Dafür wird er morgen erschossen.“

„Und übermorgen wären seine Retter, seine Landsleute hier, zu denen er wollte?“

„Vielleicht morgen schon. Sie würden ihn dennoch vorher erschießen.“

„Sie sagen das so kalt, Herr Gefangenwärter?“

„Ich kann ihn nicht retten. Wie soll ich mich da für ihn ereifern? Und dann, Bursch – der arme Mensch kann nicht dafür – aber er trägt nun einmal den Namen eines jener Generale, die dem Könige seine Festungen verrathen haben, und ich sagte Dir schon, wenn ich an die Menschen denke, dann will mir das Herz im Leibe zerspringen.“

„Aber der arme Lieutenant ist doch unschuldig daran!“

„Ja, das ist er, aber –“

Ein Diener des Magistrats trat in den Gang und unterbrach den Gefangenwärter.

„Sie möchten einen Augenblick herauskommen.“

„Was gibt es?“

„Es will Sie Jemand sprechen.“

Der Gefangenwärter verließ den Gang. Er durfte es. Er war nur auf Befehl seiner vorgesetzten Behörde, des Magistrats,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_817.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2017)