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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

da, und nur um danach zu sehen, daß auf Seite des Militärs in dem der Stadt gehörigen Locale Alles ordentlich hergehe. Draußen vor dem Gange stand ein hoher tief in einen Mantel gehüllter Mann vor ihm.

„Folgen Sie mir wenige Schritte,“ sagte der Mann.

Er ging hierauf sogleich aus dem Gebäude auf die Straße.

In der dunkeln Straße blieb er stehen. Der Gefangenwärter war ihm gefolgt. Der Mann wandte sich zu ihm zurück.

„Sie bewachen einen Gefangenen, der morgen erschossen werden soll?“

„Ja.“

„Er ist ein preußischer Officier?“

„Ich weiß es.“

„Können Sie ihn retten?“

„Ich?“

„Sie können. Wollen Sie es?“

„Ich weiß nicht, Herr, was ich Ihnen darauf antworten soll.“

„Sie kennen mich?“

„Sie sind der Herr Krajewski.“

„So nenne ich mich. Sie waren früher preußischer Unterofficier?“

„Das war ich.“

„Sie wurden am 14. October 1806 bei Auerstädt schwer verwundet?“

„Ich lag für todt auf dem Schlachtfelde.“

„Neben Ihnen lag ein eben so schwer verwundeter Officier?“

„Er war ein preußischer Hauptmann.“

„Nach dem Hauptmann wurde gesucht. Er wurde gefunden. Man wollte ihn fortbringen. „Es liegt noch ein schwer Verwundeter in der Nähe,“ sagte er, man solle auch den retten. Er meinte Sie. Sie lagen schwach, halb ohnmächtig da, hatten kein Zeichen des Lebens mehr von sich geben können. Man suchte Sie, fand noch Leben in Ihnen und nahm Sie mit. So wurden Sie gerettet. Jenem Hauptmann verdanken Sie das Leben.“

„Was ist aus dem braven Mann geworden, Herr?“

„Er ist jetzt Oberst und wird in diesen Tagen mit bei Leipzig gekämpft haben. Aber ein Verwandter, ein naher Verwandter von ihm ist in diesem Augenblicke hier.“

„Hier in der Stadt?“

„Sein jüngerer, einziger Bruder ist der Gefangene, der morgen von den Franzosen erschossen werden soll. Wollen Sie ihn retten? “

„Herr des Himmels!“ rief der erschütterte alte Soldat.

Aber er hatte nur noch einen Augenblick geschwankt.

„Herr,“ sagte er, „ich wäre nicht mehr werth zu leben, wenn ich ihn nicht rettete. Ich stehe allein in der Welt, ich habe nicht Weib und nicht Kind, und bin ein alter Kerl, an dem nichts mehr gelegen ist. Der Officier soll frei sein.“

„Wie?“ fragte ihn der Greis.

„Seine Zelle steht mit einem andern Gefängnisse in Verbindung, aus dem man in einen Hinterhof des Rathhauses gelangt.“

„Der Hof ist nicht bewacht?“

„Er ist unbewacht.“

„Und frei?“

„Ein unverschlossenes Seitenpförtchen führt in die freie Straße.

Nur die beiden Gefängnißthüren sind verschlossen.“

„Und wer hat die Schlüssel?“

„Ich. Folgen Sie mir, Herr. Ich schließe sogleich auf und überliefere Ihnen den Gefangenen.“

„Nicht so,“ sagte der Greis. „Sie geben mir den Schlüssel, Sie gehen auf Ihren Posten zurück und bleiben dort. Sie sollen keinen Augenblick in Gefahr kommen. Die Thüren schließe ich wieder ab und die Schlüssel gebe ich Ihnen zurück. Keine Spur wird den Weg anzeigen, auf dem der Gefangene entkommen ist. Auf Sie kann am wenigsten ein Verdacht fallen, da die Schildwache wird bezeugen müssen, daß Sie immer auf Ihrem Platze waren. Tragen Sie die Schlüssel bei sich?“

„Hier sind sie.“

„Wo liefere ich sie Ihnen zurück?“

„Legen Sie sie in jene Mauernische. Ich hole sie nach einer halben Stunde von da ab.“

„Gut.“ Der Gefangenwärter kehrte auf seinen Posten zurück. Der Greis ging mit den Schlüsseln in die Straße hinein. Das Rathhaus lag mit seinen kleinern Anbauten frei. An seinen beiden Nebenseiten liefen schmale Gassen. In eine dieser Gassen ging der Greis. Er kam an eine Mauer, in der sich ein kleines Pförtchen befand, das wiederum in einen kleinen dunklen Hof führte. Leise schritt er darüber hin, einem dunklen offenen Gange zu und fand bald eine Thüre, die er mit einem der Schlüssel öffnete. Er durchschritt die Thür und befand sich in einem engen Raume. Er mußte in dem Gefängnisse sein, das an der Zelle des Officiers lag, den er befreien wollte. Er fühlte umher und fand eine zweite Thür. Er versuchte auch sie zu öffnen. Der zweite Schlüssel schloß sie auf. Er hatte Alles leise, kaum hörbar gethan. Auch in der Zelle, die er aufgeschlossen hatte, herrschte völliges Dunkel. Er hörte Geräusch darin.

„Still!“ rief er leise hinein.

Das Geräusch hörte auf, er trat in die Zelle.

„Keinen Laut!“ sagte er zu dem Menschen, der in der Zelle war. Es war der Gefangene, den er suchte, den er befreien wollte. Die vollste Geräuschlosigkeit war nöthig. Unmittelbar unter dem Fenster des Gefängnisses ging eine Schildwache. Unmittelbar vor seiner verschlossenen Eingangsthür stand eine zweite. Man konnte hören, wie dort und hier der Sand unter ihren Füßen knarrte. Sie mußten jeden Laut in dem Gefängnisse hören können.

Der Gefangene hatte in einem Winkel der Zelle auf einer Pritsche gelegen. Er hatte sich erhoben und stellte sich dem dunklen, tief in den Mantel gehüllten Manne gegenüber, der zu ihm eingetreten war.

„Wer ist da?“ fragte er, aber leise, mit gedämpfter Stimme.

„Folgen Sie mir,“ sagte ihm der Greis. „Sie sind frei.“

„Und wer verkündet mir die Freiheit?“

„Folgen Sie mir.“

Da hatte der Gefangene die Stimme erkannt.

„Ihnen?“ sagte er. „Und Ihnen soll ich auch noch meine Freiheit verdanken?“ Seine Stimme zeigte Entrüstung, Entsetzen, Abscheu.

„Adalbert,“ entgegnete ihm eine bittende, eine schmerzlich und demüthig bittende Stimme, die Stimme des Greises, dessen hohe, gedrückte Gestalt sich tiefer beugte. „Adalbert, folge mir, ich beschwöre Dich.“

Aber der Gefangene trat zurück.

„Sprechen Sie nicht so zu mir. Nennen Sie meinen Namen nicht. Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen. Nie!“

„Adalbert! Adalbert!“

„Verlassen Sie mich. Ich will auch die Freiheit, das Leben nicht von Ihnen. Es wäre ein Leben der Schande, der Schmach.“

„Adalbert, kann ich gehen ohne Dich?“

„Ich habe nichts gemein mit Ihnen, mit einem Verräther seines Königs, seines Vaterlandes, seiner Ehre. Gehen Sie! Gehen Sie! Berühren Sie mich nicht. Ich darf Ihrer Schmach nicht theilhaftig werden. Ich will sterben als Mann von Ehre, als ehrlicher, preußischer Officier.“

„Und Melanie?“ rief die zitternde Stimme des Greises.

„Melanie?“ rief der Gefangene, und neues Entsetzen hatte ihn ergriffen, aber auch ein heftiger, gewaltsamer Schmerz war ihm mit dem Namen in das Herz gedrungen. „Melanie? Wo ist die Unglückliche? Lebt sie?“

„Sie lebt. Und um ihretwillen denn beschwöre ich Dich, folge mir, nimm Deine Freiheit, Dein Leben. Dein Tod würde sie wahnsinnig machen. Sie steht schon so nahe an dem Wahnsinn. Rette sie. Rette mein Kind, Deine –“

„Kommen Sie,“ sagte mit einem gewaltsamen Entschlusse der Gefangene. „Führen Sie mich zu ihr.“

„Folge mir.“

Der Gefangene folgte dem Greise. Sie gingen leise. Der Greis schloß die Thüren der beiden Gefängnisse ab. Die Schlüssel legte er in die Mauernische, die der Gefangenwärter ihm angezeigt hatte. Fand der Gefangenwärter sie dort – und er mußte sie finden – so war es unmöglich zu entdecken, in welcher Weise und auf welchem Wege der Gefangene befreit war. Der Greis führte den Befreiten zu seiner Wohnung vor der Stadt. Sie gingen schweigend. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Sie erreichten das einsame Landhaus. Der Greis trug den Schlüssel zu der Hausthür bei sich. Er schloß sie auf. Sie traten in das Haus, in das Wohnzimmer der Familie. Es war erleuchtet, aber leer.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_818.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)