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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

noch sehr gedrückten Stimmung zusagte, sondern konnte auch am freisten und unbelästigtsten meiner Neigung zu einsamen Streifereien folgen. In der Stadt würde sich oft genug jemand gefunden haben, der sich mir angeschlossen hätte; hier trat ich aus der Haus- oder Gartenthür und war beinah schon auf dem Jagdterrain. Die Gemeindeweide einerseits, ein großer See und sich anschließende Rohrbrüche auf der andern Seite, ausgedehnte Felder, kaum eine halbe Stunde entfernte Waldungen boten mir nah und fern Gelegenheit zu allem, was mir gerade wünschenswerth war. Ich wurde von niemand belästigt und belästigte niemand. Es waren vor diesem Thor nur drei oder vier Häuser und ein paar Scheuern; die kleine Stadt breitete sich, wie man das ja auch von größeren weiß, mehr gegen Westen und Süden aus, als gegen Osten, wo meine Wohnung lag.

„Das Haus des Majors stand ganz frei, dazu noch auf einer kleinen Bodenerhebung, und ich hatte daher aus meinen Parterrezimmern einen weiten Aus- und Umblick. Rückwärts sah ich einen großen Theil des exwähnten Sees, Rohrbruch, Felder und lang hinziehende Waldungen. Vorn hinaus lag rechts ein einzelnes Gehöft, dahinter Felder und die Gemeindeweide, links die Stadt. Viel von ihr sah ich freilich nicht, aber was ich sah, gefiel mir. Die grünberasten alten Wälle hoben sich hoch empor, gekrönt von wirklich prachtvollen Lindenalleen. Hinter denselben zeigten sich in den Zwischenräumen der Stämme Stücke der Stadtmauer und über dieselbe aufragende Giebel der dahinter befindlichen kleinen Häuser. Der wirklich zierliche und schöne Thurm der Marienkirche stieg hoch über die höchsten Wipfel empor und ließ mich in seiner wunderbar feinen Pyramide eine stets neue Freude haben, und endlich präsentirte sich in einer, ich weiß nicht, ob zufälligen, ob absichtlichen Lücke der Allee ein großes, hohes, fast thurmgleiches Haus. – Die von Ziegelsteinen ausgeführten Mauern waren ungewöhnlicher Weise niemals mit Mörtel und Farbe überzogen worden, zeigten vielmehr die natürliche satte, braunrothe Färbung des Materials, und wenn an einem dunstigen Morgen die durchbrechende Sonne die mir zugewendete Hinterseite des Gebäudes mit ihren Strahlen übergoß, sah es genau so aus, als sei dasselbe aus matt glänzendem Kupfer errichtet. In der Stadt aber nannte man es allgemein „das hohe Haus“.

„Das Haus war sichtbar nicht gerade alt, denn es hatte kein Giebel-, sondern ein modernes Querdach; dessen ungeachtet machte aber der ganze Bau einen so festen, soliden und gediegenen Eindruck, wie wir ihn sonst nur vor den Erbhäusern alter reicher Patriciergeschlechter zu empfangen pflegen. Dies Aeußere zog mich unwiderstehlich an, ich beschäftigte mich in einsamen Stunden, wenn ich einmal müßig am Fenster weilte und träumte, viel mit dem Gebäude, beobachtete – studirte, darf ich nicht sagen, da nichts Besonderes daran zu finden war – es von unten bis oben und interessirte mich unwillkürlich für diejenigen, welche es bewohnen, für das, was sie treiben mochten, bevor ich noch von diesen Bewohnern und ihrem Treiben irgend etwas erfahren hatte. Viel Leben herrschte in dem Hause nicht – ihr müßt bedenken, daß es in grader Linie höchstens fünfhundert Schritt von mir entfernt war und daß ich mit meinen ausgezeichneten Augen daher alles, was an seinen Fenstern geschah, gut genug erkennen konnte. Im obersten Stockwerke zeigte sich ein Mann, eine Treppe tiefer eine ältliche Dame und eine jüngere – jedoch auch nicht mehr junge; ein schmuckes Dienstmädchen erschien oben und unten beim Lüften und Reinigen. Das war alles.

„Die Leute wohnten im Hause hierher, nach hinten, hinaus, da die Straße, in der das Gebäude lag, für Gebildete keinen besonders angenehmen, geschweige denn lockenden Anblick gewähren konnte. Es war die äußerste der Stadt, nur auf der einen Seite von einer fortlaufenden Zeile meist kleiner und ärmlicher Häuser gebildet, während auf der andern Seite häufig große Zwischenräume erschienen, welche sich dann nur durch die Stadtmauer selber begrenzt zeigten. Die Straße hieß einfach genug „am Walle“ – jenseits der Mauer und des innern Grabens zog sich dieser hin – und wurde, wie gesagt, von armen Leuten bewohnt, zwischen deren Häuschen das große rothe stattliche Haus noch auffälliger erscheinen mußte.

„Was den Erbauer desselben grade diese Gegend hatte wählen lassen, weiß ich nicht zu sagen, wie ich denn auch von der Vorgeschichte des Gebäudes wenig Anderes erfahren und zu melden habe, als daß das Haus in der Stadt nicht sowohl berühmt als vielmehr berüchtigt war. Alle Familien, die dasselbe bewohnt hatten, sollten durch dies oder jenes Unglück verfolgt und dadurch bewogen worden sein, den Besitz bald wieder an einen nicht abergläubischen Liebhaber abzutreten. Sicher war, daß das Haus, bevor der jetzige Besitzer es erworben, an zwanzig Jahre lang leer gestanden und von den Erben seines letzten Bewohners stets vergeblich zum Kauf ausgeboten worden war. Jetzt bewohnte es ein Rath des Obergerichts, dem Haus und Grundstück so sehr gefallen, daß er es gleich nach seiner Anstellung in E. erkauft und mit Liebhaberei angemessen eingerichtet hatte. Verheirathet war er nicht; seine verwittwete Mutter lebte bei ihm und füllte die Stelle der Dame des Hauses auf das Liebenswürdigste aus. Er hieß Robert Schenk und war, um auch das zu erwähnen, damals etwa dreiunddreißig Jahre alt, also mit mir etwa in gleichem Alter.

„Schenk galt bei Allen, welche dergleichen beurtheilen konnten, für einen der befähigtsten Köpfe unter den Juristen des Staats und sollte zumal für sein specielles Fach, das Criminalwesen, die eminenteste Begabung besitzen und auch bewiesen haben. Bisher war er in der Residenz angestellt gewesen und nur auf sein besonderes Ansuchen in die Provinz versetzt worden. Man wußte nicht, was ihn zu diesem Schritt veranlaßt hatte, jedenfalls freuten sich desselben aber nicht nur seine neuen Collegen, sondern auch bald die ganze Gesellschaft von E., der er sich nach allen Seiten hin und in jeder Weise beliebt zu machen wußte und von jedermann auf’s Höchste geachtet, von allen ihm so oder so Untergebenen geradezu verehrt wurde. Man konnte in Wahrheit von ihm sagen: er hatte keinen Feind, und seit seine Mutter angelangt war und er sein Haus eröffnet hatte, fanden ihn selbst die jungen Damen mehr als erträglich, welche ihn trotz all’ seiner Vorzüge anfänglich etwas zum alten Register gezählt und mit einer gewissen Sorge daran gedacht hatten, er könne vielleicht um eine von ihnen anhalten. Sie wußten, daß er von den Eltern keinen Korb bekommen hätte. Nun aber, wo sie sahen, wie angenehm es eine Frau in diesem Hause, an der Seite dieses Mannes haben würde, waren sie selber entschieden, einen etwaigen Antrag nicht abzulehnen. Ein solcher blieb aber aus; Schenk war jetzt, nach anderthalb Jahren, nicht nur unverheiratet, sondern man wußte auch nicht einmal eine einzige Dame zu nennen, der er mehr Aufmerksamkeit erwiesen hätte, als allen andern bei Gelegenheit gleichfalls. Denn er war ein artiger, galanter Mann.

„Es mochte etwa vierzehn Tage nach meiner Ankunft sein, und ich wußte damals natürlich schon von den Bewohnern des großen Hauses, als ich Schenks Bekanntschaft machte. Ich war Abends zufällig ziemlich zeitig auf die „Harmonie“ gegangen, um ein paar Zeitungen zu lesen, und fand im Lesezimmer nur einen Mann am nächsten Tisch sitzen, der bei meinem Eintritte flüchtig auf– und mich anschaute. Ich kehrte mich nicht weiter daran, sondern sah die umherliegenden Blätter durch, um mir ein zusagendes zu wählen. Da stand er plötzlich neben mir und sagte: „In der kleinen Stadt müssen wir uns doch kennen lernen, zumal wir ja beinah Nachbarn sind. Ich bin der Gerichtsrath Schenk.“ Und während ich mich wie üblich verbeugte, setzte er lächelnd hinzu: „Sie kennen mich wohl nicht mehr, Herr Hauptmann?“

„Ich sah ihn an und – war sogleich orientirt. Man konnte auch diese markirten und doch angenehmen Züge, dies geistvolle und zugleich freundliche braune Auge, dies schwarze leicht gelockte Haar – es sind diesmal keine Roman-Locken, sondern wirkliche – mit einem Wort, man konnte diesen Mann nicht vergessen, wenn man mit ihm einmal in Verkehr gewesen; seine ganze Erscheinung war nichts weniger als eine gewöhnliche. Man mußte augenblicklich erkennen, daß man es in ihm mit einem bedeutenden so gut wie mit einem liebenswürdigen Menschen zu thun habe. Wir waren uns vor zwölf Jahren, er als Referendar und ich als zur Kriegsschule commandirter junger Lieutenant, in P. bei einer widerwärtigen Geschichte zwischen einem seiner Collegen und einem Cameraden von mir begegnet – als Secundanten – und sein Benehmen und Auftreten hatte schon damals uns jungen Burschen die höchste Achtung eingeflößt. Bald nachher waren wir uns freilich wieder aus den Augen gekommen, nun aber erinnerte ich mich, zumal auf seine Frage, an alles und bot ihm herzlich die Hand.

„So war die Bekanntschaft erneuert. Wir plauderten viel an dem Abend, einige Tage darauf ging ich zu ihm, kam er zu mir, wir gefielen einander je länger desto besser und waren bald so gute Freunde, daß wir fast alle Tage einmal, häufig genug ganze

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_002.jpg&oldid=- (Version vom 17.5.2018)