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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

und Spitzen, Kleiderstoffe fuder- und schiffsladungsweise, aber auch im Einzelnen kaufen kann. Die großen Schaufenster sind immer von drei-, vierfachen Reihen kauflustiger Damen belagert. Wer Schönheiten und Eitelkeiten und Tand studiren will, mag hier verweilen, sich aber warm halten, damit er sich nicht bei warmer Bewunderung der schönen Welt erkälte. Wir unsrerseits gehen durch eine ganz enge und ganz kurze Seitenstraße in eine lange und noch engere, den Mittelpunkt des ganzen englischen Buchhandels, genannt Pater Noster Row. Von diesem Brennpunkte geistiger Nahrung führen noch viel engere Schlüpfen von Gäßchen in den Mittelpunkt alles Fleisches dicht dahinter.

Ja, der Großfleischmarkt Londons drängt sich in furchtbarster Enge dicht an das Leipzig des englischen Buchhandels, die enge Pater Noster Row.

Die Ochsen-, Schweine- und Schöpsenkeulen für 3 Millionen Menschen reichen bis in die ungeheueren Lager von Büchern und Broschüren und Magazinen für 28 oder doppelt so viel Millionen Menschen, da wir hier auch an die Colonien und den auswärtigen Verbrauch englischer Literatur denken müssen.

„Hier ist ein Wunder, glaub’ es nur!“ Wie man in diese paar scheußlichen, engen Schlupfwinkel zwischen dem Newgate-Gefängniß, vor welchem die armen Sünder mitten auf der Straße noch heute gehangen werden, der Paulskirche und dem Denkmal Robert Peels (classische Zusammenstellung in echt englischem Geschmack!) alles Fleisch für London und die Literatur für England zusammendrängen und von hier aus täglich fix und fertig in jeden Mund werfen kann, das ist ein Wunder. Auf dem Newgate-Markte wird Alles sogar in wenigen Stunden abgemacht. Von 3–4 Uhr an Morgens füllt es sich, und um 9–10 Uhr ist das Fleisch für 3 Millionen Menschen in Tausende von Fleischläden verschwunden.

Es ist wie mit den Fischen, Blumen, Früchten und Gemüsen, deren Zufuhr und Absatz im Großen an die Kleinhändler auch immer in Nacht und Nebel abgemacht wird. Ohne daß ein Polizei-Präsident oder irgend ein Staatsbeamter oder irgend etwas von Behörde und Menschenbeglückungs-Büreau oder irgend ein Gesetz im Geringsten dabei ordnet und eingreift, bekommt jeder der 3 Millionen Bewohner Londons täglich früh, wenn oder eh’ er aufsteht, sein Fleisch, seine Fische, seine Gemüse und Früchte und tausenderlei andere Dinge, die er vielleicht brauchen oder wünschen könnte, frisch aus der Schlächterei, aus Meeren und Flüssen, aus Feldern und von Bäumen Hunderte von Meilen weit her vor die Thür geliefert, ins Haus getragen. Die destillirteste, reinste, verdichtetste und göttlichste Macht und Weisheit der weisesten hundert Polizei-Präsidenten Europa’s brachte nicht eine so vollkommene Maschinerie von Ordnung, Fülle, Sicherheit und Schnelligkeit zu Stande, als sich hier stets von selber macht, erhält und vervollkommnet. Wenn erst Staaten, die oft nicht so viel Menschen haben, als London (und was von 3, gilt auch von 30, von 300, von allen Millionen Menschen), so klug geworden sind, sich um den Verkehr nicht zu bekümmern, können’s deren Unterthanen noch bequemer, billiger und besser haben, als die 3 Millionen London’s, die sich so furchtbar dicht auf einen Fleck zusammendrängen.

Wie ist’s möglich, daß sie aus diesen miserablen Winkeln und Schlüpfen des Newgate-Marktes mit gutem und frischem Fleisch sicher versorgt werden?

Die Arbeit fängt immer Nachts um die zwölfte Stunde an, wenn die letzten Omnibus und Lastwagen verschwunden sind und Raum gemacht haben, und dauert, bis die Omnibus und Lastwagen und Equipagen die Straßen wieder in Beschlag nehmen, d. h. von 8–9 Uhr Morgens. Während dieser Nachtzeit gehören die Straßen den Fleischerkarren, den Lastwagen voller Früchte, Gemüse und Blumen, den Fischlieferanten, den Milchhändlern, so daß die Leute, während sie ihr Nachtessen verdauen, immer schon wieder mit Frühstück und Mittagbrod und allen Delicatessen des Nach- und Nachttisches für den folgenden Tag versorgt werden. Das Fleisch kommt theils lebendig in zahllosen Heerden zu Wasser und zu Lande, zu Fuß und mit der Eisenbahn, theils geschlachtet und gut verpackt, sogar eingenäht, in London an und ist bis 5 Uhr Morgens dicht beisammen auf dem Newgate-Markte. Unzählige Wagenburgen von Fleischerkarren rollen während der Nacht durch die Straßen, leer nach, beladen vom Newgate-Markte.

Ich hatte mich mit meinem Fleischlieferanten verabredet, ihn um 5 Uhr Morgens zu treffen, damit er mir einmal den Newgate-Markt in seiner Geschäftsblüthe zeige. Unser Stelldichein war der Winkel des berühmten, alten City-Gefängnisses. Hier trafen wir uns pünktlich einer unendlichen Doppelreihe von einspännigen Karren gegenüber, deren weiche Kissen, Sitze und Mäntel und sonstige Kostbarkeiten den lauernden Dieben („lurchers“ und „snatchers“) gute Ernte zu bieten schienen. Ich äußerte mein Befremden über diese Sorglosigkeit, aber mein Führer ließ mir ein Licht aufgehen, indem er blos auf eine im Schatten der geräumigen Gefangnißmauer wachende und scharf umherspähende Figur zeigte. Ein einziger von den Fleischern privatim angestellter Mann machte hier die ganze Polizei und alle Einmischung von „Behörden“ überflüssig. Auch kommen die Polizeimänner blos zum Vorschein, wenn sie ganz besonders gerufen werden und wirklich nöthig sind.

Wir schoben uns in die kleine Hauptstraße des Marktes, wo ein unabsehbares Gewirr von Eisenbahn-Karren ihre Ladungen noch los zu werden suchten, während die Fleischer ihre Einkäufe und Ladungen schon durch wahre Nadelöhre von Raum hindurch zu quetschen und auf ihre Karren zu bringen sich abmühten.

Wie sie es anfingen, große Schöpsen und Ochsenhinterviertel über Köpfe und Schultern und Wagen hinweg wirklich davon und an Ort und Stelle zu bringen, ist mir heute noch ein Räthsel. Der Markt besteht aus wohl zwanzig kleinen, engen Gäßchen und Schlüpfen mit unzähligen Winkeln und unheimlichen Höhlen. Blos durch zwei Straßen können Wagen fahren. Letztere sind sieben Fuß breit, die beiden Straßen blos je zehn Fuß. Jeder Wagen enthält durchschnittlich 40 Centner Ochsen-, Schöpsen und Schweinehinterviertel („warum keine Vordertheile?“ Räthsel, das wohl niemand rathet, so daß wir’s hernach selber lösen wollen), die oft auf beiden Seiten über den Wagen hervorragen. Was bleibt da für Raum? Es bleibt nichts als dichter Qualm und Nebel, nebelumhüllter Lampenschein, sichtbarer Athem von Menschen und Thieren, Feuerwerk unter den Pferdehufen, die auf den nassen Steinen ausglitschen und kochen und dampfen vor Angst und Mangel an Luft und vor den Flüchen des Markt-Pedells, der sich mit den Pferdebändigern zankt. Aber sie behalten alle merkwürdig kaltes Blut und arbeiten sich wie Zauberer und Titanen mit Riesenkraft und Geschicklichkeit rasch gegenseitig in die Hände. Am meisten fielen mir ungeheuere Packete, in Sackleinewand genäht, auf, die vor einem noch geschlossenen Laden aufgehäuft wurden, sodann sonderbar ungeschickte Weidengeflechte, die so schwer hinplumpten, als wären sie mit Blei gefüllt. In letzteren stecken die Meisterstücke von Schöpsenhinterkeulen für die alten berühmten Hammel-Rippen-Restaurationen, in denen schon Shakespeare, Dichter und Notabilitäten der verschiedensten Jahrhunderte, ihre Hammelrippe eben so gut aßen, wie die Menschen von heute. Die classische Hammelrippe (eigentlich Hammelschnitt), wie sie in der City in Hunderten von Restaurationen täglich vielcentnerweise verzehrt wird, kann blos vom Hinterviertel geschnitten werden. Vordertheile kommen daher gar nicht nach London. Eben so ist’s mit den Schweinen und Ochsen von Aberdeen und sonstigen schottischen und fernen Gegenden, die immer blos Hinterviertel, dicht in luftdichte Sackleinewand genäht, auf den Londoner Großfleischmarkt schicken. Die Vorder- und sonstigen werthlosen Theile sind die Fracht nicht werth und nicht im Stande, das Ideal alles Fleisches, das die Londoner Geld- und Standes-Aristokratie alle Tage verwirklicht auf dem Tische sehen will, die „fein marmorirte“ Durchwachsenheit von Fett und Muskeln, leuchten zu lassen.

Es war früh, es war noch Nacht, aber die Tavernen, sonderbar enge hineingequetscht zwischen unendlichen Reihen von Fleischmassen und bald ganz verhangen und versteckt, glänzten in brillanter Gasbeleuchtung, die kometenschwanzartig durch die Schweine- und Ochsenviertel hindurch in die rauhe, nebelige Novemberluft hervorbrach. Im „Alten Kaffeetopf“, in der „Glocke“, in „Salutation and Cat“ überall Glanz und Leben und große Zinnkrüge Bier und saftquellende Stücke „Beef“ und aristokratischer Luxus ausgebreitet vor schmierigen, schmutzigen, riesigen Kerls in dicken Lederschürzen und blauer Leinwand. So massiv und massenhaft mögen die Freier der Penelope im Homer, die alten Nibelungenrecken geschmaußt haben. Hier ist Alles dicker Reichthum bis zum Pferdeknecht und Lastträger herab, die mit kaltblütiger Verächtlichkeit ihre Goldstücke hinwerfen, wenn sie bezahlen, und die Masse Silber, die sie herauskriegen, nur aus Gnade und Barmherzigkeit mit zu nehmen scheinen. Hier ist selbst das schmutzige Bret mit seinen großen Haken so gut wie Gold. Für die Erlaubniß, ein solches Bret, zwei Fuß breit und sieben lang, an eine Wand zu

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_041.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)