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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Es war in dem unglücklichen Jahre 1849, als wir eines Abends traulich beisammen saßen. Meine Frau und ich sonnten uns an dem Glück unserer Kinder, deren Hochzeit in einigen Wochen sein sollte, und die schon jetzt die schönsten Pläne für die Zukunft schmiedeten. Plötzlich wurden wir durch ein heftiges Klopfen an die Hausthür erschreckt. Der Diener meldete, daß dänische Soldaten draußen seien, die dringend Einlaß begehrten. Wir Männer gingen in ein anstoßendes Zimmer, von wo man auf die Straße sehen konnte, mein Buchhalter ergriff ein Paar geladene Pistolen, öffnete das Fenster und frug die Untenstehenden, was sie wollten. „Macht auf, deutsche Hunde“, schrie der Officier, der die Rotte führte, „wenn Ihr den Strick um den Hals habt, werde ich Euch sagen, was wir wollen.“ Obgleich wir uns frei wußten von jedem Vergehen gegen die Dänen, erschraken wir doch, denn in der letzten Zeit waren häufig Gewaltthätigkeiten gegen ganz unschuldige, friedliebende Bürger verübt worden. Mein zukünftiger Schwiegersohn beugte sich aus dem Fenster und erklärte ihnen, sie möchten bis morgen warten, in der Nacht werde Niemand in’s Haus gelassen. Ein Schuß war die Antwort, – ein unglückseliger Schuß! Mein Buchhalter sank, ohne einen Schrei auszustoßen, mit zerschmettertem Kopf entseelt in’s Zimmer. Die durch den Schuß aufgeschreckten Frauen eilten herbei, mit einem Blick hatten sie Alles überschaut und Clara warf sich laut weinend über den Körper ihres Bräutigams. „Hermann!“ rief sie, „Hermann, Du bist nicht todt, nein! nein! nein! Das bräche Deiner armen Clara das Herz. Wach auf! ich bin es, Deine Clara – Deine Braut. – Gott! – lieber Gott – er will nicht hören – er kennt seine Braut nicht mehr!“

Der Alte schwieg und trocknete eine Thräne, die seine bleiche Wange herab rollte.

Nach einer Weile fuhr er fort: „Den Kolbenschlägen der Soldaten konnte die Hausthüre nicht lange widerstehen, die wilde Rotte drang in’s Zimmer, blieb aber beim Anblick des sich ihr darbietenden Schauspiels erschreckt stehen. Aber auch nur einen Augenblick; der Officier, der des Patentes eines Schandbuben würdiger gewesen wäre, befahl das Mädchen von der Leiche zu entfernen, und den Todten und mich zur Wache zu bringen, denn nur auf die Verhaftung der Männer erstrecke sich sein Befehl. Zwei Teufel, in den Röcken der dänischen Soldaten, leisteten diesem Befehl lachend Folge. Kaum jedoch berührten sie den Todten, als die noch immer weinende Clara wie eine wüthende Löwin aufsprang. In der Hand die Pistolen, die dem Todten entfallen, stürzte sie auf die Soldaten; zwei Schüsse knallten – der Officier und ein Soldat stürzten getroffen zu Boden. Die hierdurch gereizten Soldaten bewältigten rasch den schwachen Widerstand. Clara und ich wurden geknebelt und befanden uns bald auf dem Wege zur Wache. Durch die Schüsse erschreckt, waren die Bewohner der Stadt herbeigeeilt, das Gerücht meiner Verhaftung hatte sich schnell verbreitet, und trotz aller Mühe gelang es den Soldaten nicht, die von allen Seiten herbeiströmenden und eine drohende Haltung annehmenden Bürger abzuwehren, mehrere drängten sich sogar mit bis zur Wache. Wir wurden dort verhört. Als ich dem wachthabenden Officier meinen Namen „Erichs“ nannte, fuhr er erstaunt und erschrocken zurück. „Es ist nicht möglich,“ rief er. Man hatte einen Anderen verhaften wollen, der trunkene Officier hatte die Häuser verwechsel und hierdurch mein Unglück und seinen Tod herbeigeführt. Als die mitgekommenen Bürger dies vernahmen, brachen sie in ein Wuthgeschrei aus, der Officier ließ die Wache in’s Gewehr treten und drohte, wenn sie sich nicht ruhig entfernten, auf sie zu schießen. Sie zerstreuten sich, vorher jedoch drückte mir Mancher die Hand und versprach, mich zu retten. Der Officier ließ Clara und mich abführen, weil wir, wie er sagte, an dem Tode zweier braver Soldaten schuldig seien. Unsere Haft war nicht von langer Dauer: noch in derselben Nacht wurden wir von meinen Freunden befreit. Meine Frau, Clara und ich verließen sofort als Flüchtlinge unsere Vaterstadt, um sie nie wieder zu sehen. Unser nächster Zufluchtsort war Hamburg, wo wir zwei Monate verweilten. In dieser Zeit wurde es bei uns zur Gewißheit, daß Clara’s Geisteskraft gestört und ein stiller Wahnsinn sich ihrer bemächtigt habe. Vergebens nahmen wir Rath und Hülfe der besten Aerzte in Anspruch, alle schüttelten bedenklich den Kopf und erklärten, daß nur ein Ereigniß, welches meine Tochter auf’s Neue heftig erschüttere, die ihren Geist umfangenhaltenden Bande zu lösen im Stande wäre.

„So war denn eine so kurze Zeit hinreichend, meine Tochter wahnsinnig und zur Mörderin, aus den glücklichsten Menschen unglückliche heimathlose Flüchtlinge zu machen. Das in Hamburg damals durch die Einquartierung fremder Soldaten erhöhte unruhige Leben ward uns zur Last, wir sehnten uns nach Ruhe, allein wohin? Diese Frage suchte ich mir lange vergebens zu beantworten. Da erinnerte ich mich meines Onkels in Norwegen. Sogleich war mein Entschluß gefaßt. Wir reisten hierher und kamen gerade noch früh genug, dem Onkel die letzte Ehre erweisen zu können, – ihn zum Grabe zu geleiten. Er war unverheirathet gestorben und hatte mich, als seinen nächsten Verwandten, zum Universalerben eingesetzt. Unsere neue Wohnung suchte ich so wohnlich als möglich einzurichten, und so leben wir nun seit fünf Jahren in stiller Abgeschiedenheit und verkehren, außer dem Arzt aus Aggeroe, mit keinem Fremden. Sie sind der Erste, der dieses Zimmer betreten, der Einzige, dem ich meine Geschichte erzählt. Und wissen Sie, was mich dazu bewog? Eine merkwürdige Aehnlichkeit, die Sie mit dem so unglücklich umgekommenen Bräutigam meiner Tochter haben. Gleich im ersten Augenblick fiel mir dieselbe auf und zog mich zu Ihnen hin. Sie werden bald meine Frau kennen lernen, auch diese wird, ohne daß ich sie darauf aufmerksam mache, die auffallende Aehnlichkeit bemerken. Sie ist jetzt bei unserer armen Clara, die vergangene Nacht, ohne daß wir es wußten, nur in ein leichtes Tuch gehüllt, das Haus verlassen hat und in den Bergen umhergewandert ist; sie hat sich dabei tüchtig erkältet und liegt in Folge dessen zu Bett.“

Mit Aufmerksamkeit hatte ich der Erzählung des alten Erichs zugehört. Sein wechselvolles trübes Leben hatte den gewiß einst geraden Nacken gebeugt, seine Haare gebleicht und seinem Gesicht den Stempel des Kummers aufgedrückt.

Die Zimmerthüre ging auf; eine schlanke Frau mittler Größe trat ein. Die gramvoll gefurchten Züge ließen mich wohl nicht in Zweifel, daß sie Erichs’ Frau sei. Wie unter einer schweren Last gebeugt, kam sie auf mich zu, blieb aber einige Schritte vor mir und sah mich mit großen Augen an. „Stehen die Todten auf, oder täuscht mich mein vom vielen Weinen getrübtes Auge? Hermann?“ fragte sie mit zitternder Stimme. Ich ging auf sie zu und faßte die welke Hand der armen Frau „Wohl ein Hermann,“ sagte ich, „leider nicht der, den Sie meinen, nur ihm ähnlich. Ihr Mann hat mir erzählt, wie hart das Schicksal eine Familie mitgenommen, die ganz gewiß eines besseren Looses werth wäre. Sollte es wohl bloßer Zufall sein, daß unser Schiff hier Schutz suchen mußte, wo sonst nie ein Kauffahrer anlegt? Könnte diese Aehnlichkeit nicht einen wohlthätigen Einfluß auf Ihre Tochter ausüben?“. Ein Strahl der Hoffnung erhellte die Gesichter der armen alten Leute. „Das walte Gott!“ sagte Frau Erichs und schüttelte mir gerührt die Hand.

Wir saßen noch lange beisammen und schließlich wurde festgestellt, daß Clara, sobald es ihre Gesundheit erlaube, mich sehen solle. Da die Zeit meines Urlaubs verstrichen, verabschiedete ich mich, mußte jedoch versprechen, so oft es mein Dienst erlaube, die alten Leute zu besuchen.

Fünf Tage waren verstrichen, jeden Tag hatte ich Erichs besucht; Clara’s Gesundheitszustand war, statt sich zu bessern, mit jedem Tage bedenklicher geworden, so daß der Arzt ernstlich für ihr Leben fürchtete.

Ich hatte von 11 bis 1 Uhr des Nachts Wache am Deck und hatte mir’s vorne am Spill zwischen den Fockstangen bequem gemacht. Ruhig überdachte ich das aus Aggeroe Erlebte. Da legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter. In dem Glauben, es sei einer der Matrosen, der sich einen Spaß machen wolle, blieb ich ruhig sitzen und frug nur ohne mich umzudrehen: was giebts? „Pst! Pst! still, er ist nicht todt, er schläft.“ Erschreckt wandte ich mich um. Die Wahnsinnige in einem schwarzen Kleide, um den Kopf ein weißes Tuch geschlungen, stand neben mir. Noch nachdenkend, wie sie wohl an Bord gekommen, und wie ich mich ihr gegenüber benehmen sollte, trat plötzlich der Mond hinter den Wolken, die ihn bis jetzt versteckt gehalten, hervor und beleuchtete uns Beide hell. Ich wollte mein Gesicht schnell verbergen, – zu spät, sie schaute mich starr an, ein tiefer Seufzer hob ihre Brust mit dem Ausrufe: „Gott, Hermann!“ sank sie zusammen. Einen Augenblick stand ich regungslos neben ihr und schaute in das bleiche, aber nichts desto weniger sehr schöne Gesicht. Armes Mädchen, wie wird Dein Erwachen sein! Aber ich durfte nicht säumen, schnell lud ich die nicht schwere Bürde auf meine Schultern, schritt vorsichtig über die Bohle, welche vom Schiff bis an’s Land gelegt war, und in ganz kurzer Zeit war ich bei Erichs. Hier war Alles in großer Aufregung; die Magd, welche an Clara’s Bett gewacht, war eingeschlafen, und hatte Clara’s Abwesenheit erst kurz vor meiner Ankunft bemerkt. Mit wenigen Worten erzählte ich das Vorgefallene und legte die ohnmächtige Clara auf’s Sopha, wo man sich lange vergebens bemühte, sie ins Leben zurückzurufen. Endlich öffnete sie die Augen und ließ sie suchend umherschweifen. Sie blieben auf mir ruhen, jeder Muskel ihres Gesichtes zuckte. Nie werde ich diesen Augenblick vergessen, Vorwurf, Hoffnung, Schmerz, Liebe, alles lag in dem einen Blick. Sie stand auf, wankte auf mich zu und schlang ihre Arme um mich. Mit einer Stimme, in welcher keine Spur von Wahnsinn mehr lag, sprach sie: „Jetzt, Hermann, laß uns sterben.“ Krampfhaft zog sie mich an sich. Thränen traten in Aller Augen, es herrschte ein feierliches Schweigen, nur das Schluchzen der Anwesenden unterbrach die Stille. Ich wollte die arme Dulderin sanft von mir losmachen, um sie zum Sopha zu geleiten, – vergebens, sie hielt mich fest, als fürchte sie, ich werde ihr entrissen. „Clara!“ rief ich, „fasse Dich!“ Keine Antwort. – Ich legte meine Hand auf ihre weiße Stirn – sie war eiskalt. – Ich schaute in ihre halbgeschlossenen Augen, sie waren gebrochen. – Der freudige Schreck hatte die schwachflackernde Lebensflamme verlöscht. – Ich hielt eine Leiche in den Armen. – Erlaßt es mir, den Jammer der alten Eltern zu beschreiben, als sie sahen, daß Clara’s Geist dem Körper entflohen. Drei Tage später ging ich hinter dem Sarge der Wahnsinnigen zum Friedhofe.

Tags darauf hatte sich der Sturm gelegt, eine frische Brise begünstigte unser Ausgehen. Nach Verlauf dreier Tage lag unsere Brigg auf der Oder in Grabow bei Stettin. Ich nahm meinen Abschied, ich bedurfte der Ruhe, um mich zu erholen, aber noch heute, nachdem ich lange Zeit an der Folge der Aufregung krank gelegen, steht das Bild der unglücklichen Wahnsinnigen vor mir und sieht mich an mit den thränenden Augen, die so schön und lieb unter den dunklen Wimpern lagen.

H. Seeger.  
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_064.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)