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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

mit Mühe so viel Ordnung hinein bringen konnten, daß in der Mitte ein schmaler Raum frei gehalten wurde. Alle Fenster, alle Balcone an den hohen Häusern waren dicht mit Zuschauern besetzt, welche erwartungsvoll auf die Köpfe dieser vielen Tausende hinabblickten. Welches Schauspiel sollte heute die Toledostraße wieder sehen, wo die neapolitanische Revolution seit den letzten zwei Monaten in allen ihren wechselnden Phasen vorübergeschritten war? „Was wird denn heute hier wieder passiren?“ fragte ich einen Officier der Garibaldischen Zouaven, der sich, sowie ich, mühsam auf dem schmalen Trottoir durch die Menschenmenge hindurch drängte.

„Heute Morgen sind zweitausend Calabresen in Neapel angekommen, welche in unsere Armee eintreten wollen,“ erwiderte er mir, „sie werden durch die Toledostraße ihren Einzug halten und in der großen Caserne beim Palazzo Borbonico einquartiert werden. Die Calabresen sind gute Soldaten und voll von Enthusiasmus für Garibaldi. Bei unserm Zuge durch Calabrien haben einzelne Dörfer oft Hunderte von Streitern geliefert. Da, sehen Sie, da kommen sie schon!“

Wir blieben auf der Stelle stehen, wo wir standen, denn die ganze Circulation stockte nun vollends. Ich blickte die prächtige Straße abwärts nach dem Café de l’Europe.

Von dort bewegte sich eine Abtheilung Nationalgarde Schritt für Schritt aufwärts, die Mitte der Straße frei haltend, die Gewehre im Arm. Voran schritt ein Musikcorps, die „inno di Garibaldi“ den Marsch der Alpenjäger blasend. Die funkelnde Mittagssonne spiegelte sich in Millionen Strahlen auf den blitzenden Bajonneten. Hinter ihnen marschirte eine Abtheilung Garibaldische Infanterie. Die rothen Blousen und rothen Mützen, die bunten Schärpen in den italienischen Farben, die weißen Mäntel der Officicre sahen prächtig aus. Voran gingen zwölf Trompeter, welche ebenfalls den Marsch der Alpenjäger bliesen. Es waren Knaben in dem Alter von vierzehn bis sechszehn Jahren; aber sie bliesen mit einer Begeisterung und einer Vehemenz in ihre Trompeten, als wenn es gälte, die Mauern von Jericho umzublasen. Dann kamen die Calabresen, die meisten in ihrer Landestracht, einige bereits in der Garibaldischen rothen Blouse, die spitzzulaufenden calabresischen Hüte, welche mit bunten Federn und mit langflatternden rothen, weißen und grünen Bändern geschmückt waren, auf ihren charakteristischen Köpfen. Sie waren fast durchgehends mit den kurzen Flinten ihrer Berge bewaffnet, die meisten trugen außerdem Pistolen und lange Dolchmesser in ihren Ledergürteln oder in den bunten Schärpen, welche sie malerisch um die bis zum Knie gehende Hose geschlungen hatten. Um den braunen, kräftigen Hals trugen sie farbige Tücher, deren Zipfel auf die nackte Brust hinabhingen. Es waren sämmtlich kräftige, kriegerisch aussehende Gestalten, weit größer und kräftiger als die Neapolitaner, mit muskulösen Armen und Beinen, die Gesichter, auf denen sich Energie und oft Wildheit ausdrückte, tief gebräunt von der calabrischen Sonne, bei manchen das halblange, dunkle Haar geflochten, bei manchen das Haar in Strähnen herabhängend. Ein dichter, dunkler Bart, den gewiß nie das Scheermesser eines Barbiers berührt hatte, bedeckte Kinn und Lippen; trotzig und wild blickten die dunkeln Augen unter den schmalen Hutkrämpen hervor auf die auf den Trottoirs sich drängende Menge und an den hohen, mit bunten Fahnen und Teppichen geschmückten Häusern hinauf. Ich hatte vor einigen Tagen die sicilianischen Truppen, dann eine Abtheilung der englischen Legion, dann die Garibaldischen Zouaven, welche von Mesina kamen, durch die Toledostraße in Neapel einziehen sehen; aber die Calabresen, welche heute die prächtige Straße passirten, imponirten ihnen allen durch ihre kräftigen Gestalten und durch die charakteristische Schönheit der Köpfe. Garibaldi hatte wohl Recht, wenn er auf seinem Zuge durch Calabrien nach Neapel von den „braven Calabresen“ schrieb, welche zu Tausenden ihre Dörfer verließen, um sich seiner Armee anzuschließen.

Als die ersten Abtheilungen von der Piazza San Carlo in die Toledostraße einmarschirten, wurden sie von unaufhörlichen Evviva’s und von einem unendlichen Beifallsklatschen empfangen. Wir im kalten Norden haben von einem Enthusiasmus im südlichen Italien keinen Begriff. Ich habe diesen Enthusiasmus täglich im Lager vor Capua gesehen, wenn Garibaldi aus der Schlacht oder von einer Recognoscirung nach Caserta zurückkehrte und von seinen Soldaten empfangen wurde, oder im Theater von San Carlo, wenn man das Ballet „Garibaldi’s Landung auf Sicilien“ gab. Es war dies kein Enthusiasmus mehr, die Menschen geriethen in eine wahrhafte Frenesie. So war es auch heute in der Toledostraße beim Anblick der Calabresen. Das Evvivarufen, das Beifallklatschen steigerte sich von Minute zu Minute zu einem fast wahnsinnigen Beifallssturm, welcher immer noch im Wachsen war, je weiter die Calabresen die Straße hinaufmarschirten. Aus allen Fenstern, von allen Balconen, von den Hunderttausend, welche auf der Straße standen, ertönte es: „Evviva l’Italia. Evviva Garibaldi!“ dazwischen der begeisternde Gesang des „All’ armi“ und die Musik des Marsches der Alpenjäger. Stolz und muthig blickten die Calabresen um sich. Ein solcher Empfang war ihnen noch nie zu Theil geworden. Sie wurden von den Nächststehenden umarmt, ihnen die Hände gereicht, aus den Fenstern und von den Balconen wurden Blumen und Bouquets in Tausenden auf die Straße geworfen. Zwei Stunden lang dauerte der Vorbeimarsch, und während dieser zwei Stunden wogte dieser Beifallssturm lawinenartig von der Piazza San Carlo die Toledostraße aufwärts.

Hätte König Ferdinand dies gesehen, wäre er zugegen gewesen bei diesem Einzuge der Calabresen in Neapel! Die Provinz Calabrien ist unter der dreißigjährigen Regierung dieses grausamen Königs, welcher nur in den Römerkaisern Tiberius und Nero seine Vorbilder in der Weltgeschichte findet, in einer entsetzlichen Weise behandelt und vernachlässigt worden. Man ist im Irrthum, weun man meint, daß Calabrien und Apulien vor Sicilien bevorzugt wurden. Auch durch ganz Calabrien führt nur eine Straße, Reste eines alten Weges, den die Römer von Reggio nach Neapel anlegten; auch in Calabrien findet, wie in Sicilien, die Handelscommunication nur zur See statt. Von Schulen, von Volksunterricht war keine Rede, nur die Priester nahmen sich der Kinder an, aber um ihre Seelen mit einem Gemisch von Aberglauben, Heiligenwundern und Anbetung der heiligen Jungfrau zu erfüllen, welches den despotischen Zwecken der Regierung zum Knechten des Menschengeistes diente. In den letzten Jahren König Ferdinands landeten der Baron Nicotera und Carlo Pisacane, Herzog von San Giovanni, mit einigen hundert Tapferen an der calabrischen Küste, um das Volk von Calabrien zum Aufstand gegen die Regierung des Königs aufzurufen. Der Aufstand wurde unterdrückt; aber seit diesem Tage wurde Calabrien wie Sicilien mit einem Heer von Polizeiagenten, Sbirren, Kerkermeistern und Soldaten überschwemmt, und eine entsetzliche Zeit begann für das unglückliche Land. Die Kerker wurden mit Gefangenen vollgepfropft; der Gedanke wurde bestraft, wenn sich dieser Gedanke auf den Gesichtszügen offenbarte. Ein Lächeln nach der Schlacht bei Belletri konnte in den Kerker führen. Auch hier gab es das Verbrechen „der stummen Demonstration einer strafbaren Gesinnung.“ Man fürchtete den Namen des Königs laut zu nennen, zitternd flüsterte man in den Häusern „Unser Herr“. Morgens fand man die Häuser leer. Wo waren die Bewohner? Polizeiagenten waren Nachts in die Häuser gedrungen, hatten Alles verhaftet, was sie vorfanden, und die Unglücklichen in die Polizeigefängnisse geschleppt. Sie blieben Jahre dort, oder sie gingen in die Bagno’s über, wenn die Peitschenhiebe der Sbirren oder die Folterwerkzeuge der Kerkermeister von ihnen Geständnisse zu erpressen im Stande waren. Auch in Calabrien ist die cuffia del silenzio, wie in Sicilien und Neapel, angewandt worden; auch in den calabrischen Gefängnissen erstickte sie das Wehklagen und das Röcheln gemarterter Menschen.

Zwei Monate später war ich auf der alten Burg in Nürnberg. In einer halbdunkeln Stube des Erdgeschosses wurde mir eine Sammlung von Folterwerkzeugen vorgezeigt, welche in Deutschland angewendet worden sind. Da waren der „Hase“, die „Leiter“, die Daumschraube, der „spanische Bock“, Knuten und Peitschen mit Bleikugeln, die „Birne“, Zangen von den verschiedensten Formen und Größen, und daneben lag ein Buch, worin die Anwendung aller dieser Instrumente durch Abbildung erklärt, und der Contract eines einstmaligen Scharfrichters der freien Reichsstadt Nürnberg, in welchem die Löhnung desselben für Anwendung aller dieser verschiedenen Martern „Alles in fränkischer Währung“ in Gulden und Kreuzern genau angegeben war. Ein Schauder überlief mich, als ich daran dachte, daß kaum fünfzig Jahre verflossen sind, als diese Marterwerkzeuge noch in Deutschland angewendet wurden; denn mehrere kleinere deutsche Regierungen haben die Tortur erst in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts abgeschafft; und mein Entsetzen vermehrte sich, als ich mich erinnerte, daß alle diese Marterwerkzeuge einst wirklich gebraucht waren. An jedem Stücke, welches ich in die Hand nahm und besichtigte, hatte das Blut

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_070.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)