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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

den durch sie gestörten Verkehr in den Gassen frei zu machen.

Ja, der Mensch braucht einige Anregung. Wenn die Behauptung Mesmer’s: wir leben, um – zu schlafen! auch eine grobe Unwahrheit sein mag, stecken in dem irdischen Futterale unseren Leibes doch so viele träge und zur Gedankenlosigkeit geneigte Elemente, daß eine energische Aufrischung häufig genug nothwendig erscheint. Diese angestammte Schwäche des alten Adams fühle ich so gut, wie jeder Andere, und pflege mich deshalb, sobald ich eine Abnahme meiner Lebenskräfte bemerke, von der Arbeit zu erheben, einen alten Hut aufzusetzen, den Omnibus zu besteigen und aus der heitern Gegend, in welcher ich meinen Wohnsitz aufgeschlagen habe, mich in die Tiefen der Stadt, an einen stillgelegenen Ort zu begeben, wo ein zuverlässiger Wirth außer einigen stets trefflich bereiteten Speisen ein kräftiges Anregungsmittel kredenzt, dessen sorgfältige Behandlung ihm seit langen Jahren unter allen Unterthanen des Gambrinus den besten Ruf gesichert hat.

Mancher zartfühlende Herr wird vielleicht bei meiner ausführlichen Angabe, daß ich bei jedem Besuche einen alten Hut aufsetze, vornehm und verächtlich die Achseln zucken; dagegen bemerke ich indessen, daß die einzige üble Eigenschaft dieses Ortes das zeitweilige Vorhandensein von Freihändlern ist, welche ihre Außenseite gern durch einen Tauschhandel zwischen ihren alten und anderer Leute neuen Hüten verbessern. Daher stelle ich mich als verständiger Geschäftsmann von vornherein auf den Standpunkt dieser Herren und lasse meine Gemüthsruhe nicht durch unangenehme Zwischenfälle verstören.

An diesem Orte der Gastfreundschaft verkehren aber die ausgezeichnetsten Leute unseres verlästerten Jahrhunderts, denn die ausgezeichneten Leute sind nicht immer diejenigen, mit welchen die Zeitungen sich am meisten beschäftigen, sondern sehr oft jene ernsten stillen Männer, die den Tag über gedankenvoll bei ihrer Handarbeit sitzen, einen unermeßlichen Gedankenvorrath aufspeichern und ihn Abends, wenn der Geist über sie kommt, beim Glase und der Pfeife aufthun, um ihre gespannten Zeitgenossen damit zu beglücken. Hier habe ich in Politicis mehr, als aus Leitartikeln, Broschüren und Vierteljahrsschriften gelernt, hier sind meine Gedanken oft über die dunkelsten Probleme des Staatslebens aufgeklärt worden, und hieher begebe ich mich, wenn Spannungen und Uebelstände in der Öffentlichkeit meine arme Seele ängstigen. Immer finde ich irgend einen hochbegabten Mann, der, aufgeregt von dem gediegenen Gebräu des Wirths, in die Tiefen der Geschichte und Gesellschaft greift, einen seltenen Ideenschatz heraufholt und mir die wunderbarste Belehrung zu Theil werden läßt. Die Alten gingen in ihren Geistesnöthen nach Dodona oder Delphi; ich, als Sohn eines modernen Staats, fahre zu den Philistern, denn so werden, offen gestanden, meine ehrwürdigen Freunde von der maulfertigen oberflächlichen Jugend unserer Tage genannt.

So begab ich mich denn neulich in tiefer Verstimmung über eine Debatte in den Parlamentshäusern der preußischen Hauptstadt in meinen durstigen Rath der Alten. Das Gerassel der Omnibusräder, nicht geistreicher als die Beredsamkeit der meisten Abgeordneten, betäubte meinen Kopf, die Gaslaternen vermochten kaum den dichten abendlichen Nebel zu durchgingen, ich war niedergedrückt und starrte durch das Glasfenster des Wagens auf das Trottoir, wo zahlreiche dicht vermummte Gestalten schweigend aneinander vorüberschossen. Da klopfte der Conducteur auf meine Achsel, der Omnibus hielt; wir waren am Ziele. Ich stolperte über den Tritt auf das Straßenpflaster und taumelte, vom Sitzen steif geworden, in das hell erleuchtete Local. Es war wie immer ganz gefüllt, und nur in einer etwas ungemüthlichen Fensterecke stand noch ein Stuhl leer, den ich rasch einnahm, um nicht ganz heimathlos zu sein. Ein dichtes Gewölk von Tabaksqualm füllte die wenigen kleinen Zimmer, und es gehörte schon eine ungemein feine Nase dazu, um die Gaben des Abendtisches aus diesem transatlantischen nicotinreichen Aroma herauszuriechen, eine schwere Anstrengung, zu der man aber genöthigt war, da der Wirth, ein Mann der alten Schule, keine Speisekarte niederschrieb, und die beiden Bierzapfer, welche sich in die Kellnerrolle theilten, so beschäftigt waren, daß man zuweilen Stunden lang von ihnen keine genaue Auskunft erhalten konnte.

Nachdem ich also mein Anregungsmittel vor mir stehen, und die erwünschte Abendkost aus der trüben Atmosphäre herausgerochen hatte, suchte ich in der Gesellschaft nach einem meiner Bekannten. Leider war in dem Gemach, wo ich ein Unterkommen gefunden, keiner anwesend, und mir blieb nichts Anderes übrig, als mit meinem unbekannten Tischnachbarn eine Unterhaltung anzuknüpfen. Mir gegenüber saß nämlich ein Herr, der nicht zu den Stammgästen des Hauses gehörte und deshalb von diesen so feindselig angesehen wurde, wie etwa ein Sperling, den muthwillige Schneidergesellen gefangen und mit einer rothtuchenen Freiheitsmütze geschmückt haben, von seinen Commilitonen. Diesem Umstande nur hatte ich den leeren Platz und Stuhl an dem Tische zu verdanken. Der Herr durfte eigentlich auch nicht zu der eben bezeichneten Menschengattung gezählt werten, welche sonst das Bierlocal bevölkerten. Obgleich er im reiferen Lebensalter stand und in seinem Antlitz Spuren von geistigem Ausdruck trug, war das Vorherrschende in demselben doch ein starker Zug von tiefer Unzufriedenheit. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung gehörte er zu jener Classe von Staatsangehörigen, welche Schiller in seinem Fiesko „Mißvergnügte“ nennt. Das Antlitz zeigte eine düstere leberkranke Farbe; die Lippen hatte der Mann fest zusammengekniffen. Man durfte ihn vielleicht für einen Professor halten, der wegen mißliebiger politischer Ansichten vom früheren Cultusministerium hart getreten und in seinem Gehalte verkürzt, von der neuen Firma aber noch nicht wieder in Gnaden angenommen worden war. Nebenbei zeigte sich etwas von einem provinzialen Anstrich im Schnitt des Rockes, dem plumpen Knoten des Halstuches und der steilen Höhe der Vatermörder; der Mann konnte auch der Gymnasialdirector einer kleinen Stadt sein, der sich seit zehn Jahren abgemüht hatte, Schulrath zu werden, und nun mit dem letzten abschlägigen Bescheid in der Tasche seine Henkersmahlzeit in Berlin genoß. Ich sollte nicht länger müßige Hypothesen aufstellen. Der Herr warf mir einen durchbohrenden Blick zu und sagte: „Entschuldigen Sie, mein Herr, man hat mir gesagt, daß dieses Local eines der besuchtesten in Berlin sei.“

„Da hat man Ihnen nur die lautere Wahrheit gesagt!“ antwortete ich dem unbekannten Mißvergnügten bescheidentlich.

„Und in einem solchen Local findet man keine Abgeordneten!“ fragte der Herr mit ingrimmigem Tone und Stirnrunzeln.

„Nein, mein Herr“, bemerkte ich lächelnd, „hier versammeln sich nur Bürger und sogenannte kleinere Leute, für den Stand der Abgeordneten ist dieser Ort zu gewöhnlich; die Herren Landboten müssen Sie in den Fractionsweinhäusern suchen.“

„Aber grade hieher, wo sie von der Stimmung und den Ansichten des Volkes sich unterrichten können, sollen sie gehen, grade hier erwarte ich den lernbegierigen Abgeordneten,“ rief der Mann mit einer Heftigkeit, die mich an seinem Verstande etwas irre machte. Ich schwieg weislich und sah ihn nur fragend an, denn jetzt mußte es zu einer Erklärung kommen.

„Ich bin ein alter Pädagog und Inhaber einer Erziehunganstalt,“ sagte der Herr und nahm einen reichlichen Schluck Bier zu sich, „aber ich beschränke meine Erziehung nicht nur auf die Kleinen, ich suche überall einzugreifen, wo ich bemerke, daß die Menschheit einen Anlauf nimmt, neue Bildungsstoffe zu verarbeiten, neue Fächer der Wissenschaft, neue Stände der Gesellschaft zu bilden. Sie werden nicht leugnen, denn Sie sehen wie ein gebildeter Mann aus, daß sich augenblicklich in Berlin zwei Corporationen befinden, die beiden Häuser der Herren und Abgeordneten, mit denen sich ein Pädagog sehr stark zu beschäftigen hätte. Die „Herren“ haben freilich in meinen Augen keine sonderliche Zukunft; ich will also nur von den Abgeordneten reden, aus denen etwas werden kann, etwas werden muß.“

„Sie scheinen Ihrer Rede nach mit unseren Landboten nicht sonderlich zufrieden zu sein?“ fragte ich mit einiger Vorsicht.

„Um des Himmels willen, kann ein Pädagog, ein Philolog, der in jüngeren Jahren Professor der Beredsamkeit gewesen ist, mit ihnen zufrieden sein?“ rief der Herr und schlug heftig auf den Tisch; „ich bin bis jetzt in jeder parlamentarischen Session einige Wochen hindurch in der Residenz gewesen und habe täglich das Parlament besucht, aber mit jedem Jahre bin ich unzufriedener geworden.“

„Nun, ich sollte meinen, grade in der Hauptsache, in der politischen Gesinnung, zeigte sich in der letzten Session ein wesentlicher Fortschritt? “

„Ich rede nicht von der politischen Gesinnung, ich bin Pädagog und nicht Staatsmann, aber ich sage Ihnen, mein Herr, es fehlt noch sehr viel, ehe ich mit diesen alten Knaben, den Abgeordneten, so zufrieden sein kann, wie mit meinen Jungen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_074.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)