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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Erik heulte vor Kummer, ich fluchte, und die Rennthiere trabten wohlgemuth von dannen.

„Nun, Strafe wird Er diesmal nicht bezahlen,“ knurrte der alte Jäger mürrisch vor sich hin, „aber ich weiß schon, das geht immer so, wenn man in der Hegezeit jagen will, Er muß wieder kommen, hierher, im August; dann wollen wir jagen!“

Und ich kam wieder, nachdem ich mich im ganzen Nordlande und in Finnmarken vergebens nach wilden Rennthieren und solchen Jägern erkundigt hatte. Sobald das Regenwetter, welches mich bei meiner Ankunft begrüßte, nachgelassen hatte, machten wir uns auf den Weg nach dem Fjeld. Ich muß hier aber wohl erst „unsere Jagdgründe“ kurz beschreiben.

Man würde sich sehr irren, wenn man sich unter dem Dovrefjeld ein Gebirge denken wollte, wie wir es in den Alpen vor uns haben. Alle Gebirge des Festlandes von Norwegen haben so ziemlich dasselbe Gepräge: sie steigen ziemlich sanft auf und sind oben abgerundet, ja hin und wieder hochflächenartig geebnet; daher wohl eben der Name „Fjeld“. Schroffe Abstürze und unersteigliche Stellungen, himmelhohe senkrechte Felsenwände, scharf auslaufende Grathe und Hörner sind selten und kommen nach meinen bisherigen Erfahrungen nur am Meere und ganz in dessen Nähe, auf dem Dovrefjeld aber nur unmittelbar am Sneehätten vor. Das Wasser ist in Norwegen zu mächtig, und hat alle Gebirge gerundet. Namentlich im Winter übt es, indem es zwischen die lockere Schichtung des Thonschiefers eindringt und dann gefriert, seine Sprengkraft im großartigsten Maßstabe. Daher findet man, daß alle Bergesgipfel mit einer dicken Lage von Geröll – losgesprengten Felsstücken – überdeckt sind, und bemerkt bei genauerer Prüfung, daß auch die unteren Wände der Berge eben nichts Anderes als solche Geröllmassen sind, welche aber mit Erde überdeckt wurden. Diese bildete sich theils durch Verwitterung des Gesteins, theils durch Ausschwemmung und endlich durch Vermoderung der ziemlich üppigen Pflanzendecke. Bis zu 3000 Fuß über Meer sind – regelmäßig – alle Gebirge und so auch das Dovrefjeld bewaldet, in der Tiefe mit Nadelbäumen, oben mit Birkenwäldern und Birkengestrüpp. Plötzlich, aber scharf abgeschnitten, endet der Wald, und die Bergeshäupter zeigen sich nunmehr in ihrem ganz eigenthümlichen Wesen. Schlangengleich und ängstlich sich an die Erde festklammernd kriechen die Zwergbirke, der Wachholder und krüppelhafte Weiden, Beerengesträuche, Flechten und Moose auf dem Boden dahin, und letztere werden bald so vorherrschend, daß sie dem Gebirge selbst auf weite Entfernung hin, die gelbliche Färbung verleihen, welche den nordischen Höhen so eigenthümlich ist. Kommen, wie gewöhnlich, nun noch einzelne Schneefelder oder Gletscher dazu, so gewinnt das Gebirge für das Auge ungemein; denn es glänzt dann förmlich in seinen bunten lebendigen Farben: auf dem Dunkel der Waldungen, aus welchen einzelne grüne Stellen hervorleuchten, liegt das lichtere Grün der Birken, über diesem das eigene Gelb der moosigen Flächen und auf diesen endlich die krystallene Schnee- oder Eiskrone, welche noch in weitester Ferne blendend hervortritt. Die noch nicht bemoosten Halden sind ganz dunkel und gleichsam Schatten im Bilde. Mit der Grenze der Birken beginnt erst das eigentliche Hochgebirge, ein Wirrsal von Thälern, zwischen denen sich einzelne runde Berge wie von einer Ebene aus erheben. Auf allen diesen Bergen finden sich nur Zwergbirken, Beerengestrüpp, Moose, Flechten und zwischen denn Gestein der Halden einzelne Gräser, Blumen und saftige Pflänzchen, mit Ausnahme des Mooses alles dürftig, klein und nicht dicht stehend. Hier ist das eigentliche Gebiet der Rennthiere.

Es ist kein Wunder, daß die meisten Reisenden behaupten, die Thiere kämen nur vereinzelt und selten vor; denn bis in ihr Reich dringt eben blos ein leidenschaftlicher Jäger oder ein echter Naturforscher, dem es auf Beschwerden und Entbehrungen nicht ankommt. Für die gewöhnliche Reisemenschheit sind jene Höhen durchaus nicht geeignet; es giebt für sie keine Packesel zum Reiten oder Lasttragen; es giebt dort oben keine Wirthshäuser oder Sennhütten mit allerliebsten Sennerinnen und citherschlagenden Gebirgsbuben etc., sondern blos Beschwerden und Mühsale. Eine Lustwandelung in jenen Höhen verlangt tüchtige Wasserstiefeln und abgehärtete Füße für dieselben, einen breiten Rücken, um sein Zeug selbst zu tragen, und vor allem eine gesunde Brust, welche bei stundenlangem Auf- und Niedersteigen ohne Beschwerde ihre Dienste thut. Das wollte ich zu Nutz und Frommen sehr neugieriger Reisemenschen bemerkt haben.

Am 15. August wanderten wir Beide, Erik und ich, aus dem Hofe heraus und stiegen rüstig, aber mit jenen langsamen und gleichmäßigen Schritten echter Gebirgskinder die Höhen hinan.

„Hat Er seinen Kikkert (Fernrohr) mit, Herr?“ fragte der Alte.

„Ja, Erik.“

„Ist Seine Büchse auch ordentlich geladen, daß sie nicht wieder versagt?“

„Ja, Alter, hab’ keine Angst!“

„Nun, dann werden wir auch Rennthiere schießen.“

Und weiter und weiter aufwärts ging die Reise. Es stäubte dann und wann naßkalt aus uns hernieder, aber der Sneehätten strahlte bereits im hellsten Sonnenschein, und auf den Gebirgen im Nordwesten lag die Sonne in wahrhaft blendendem Glanze. Nach anderthalb Stunden hatten wir die ersten Höhen erstiegen und kletterten jetzt über eine der erwähnten Geröllhalden hin. Man dürfte sich schwerlich eine Vorstellung davon machen, wie schwierig solche Wanderung ist. An Gefahr ist allerdings dabei kaum zu denken, allein Beschwerden giebt es genug. Die Halde besteht nämlich nur aus wirr durch- und übereinander liegenden Schieferplatten, welche, wenn man über sie weggeht, entweder in Bewegung gerathen oder aber so scharfkantige Ecken, Spitzen und Kanten hervorstrecken, daß jeder Schritt durch die Stiefelsohlen hindurch fühlbar wird. Die außerordentliche Glätte der Platten, über welche das Wasser herabläuft, vermehrt nur die Schwierigkeit des Weges, und das beständige Durchwaten der glattgescheuerten Rinnsale erfordert wirklich ängstliche Vorsicht, wenn man es vermeiden will, sich unfreiwillig im kalten Gebirgswasser zu baden, und dabei Arme und Beine blutig zu schlagen. Unser Pirschgang ging eben nicht rasch vorwärts.

Wirklich erhaben war die Aussicht, welche wir genossen, aber wahrhaft beängstigend die Stille und Oede der Höhe. Das Auge weidete sich an der herrlichen Gebirgswelt, an Hunderten von Bergen und Gipfeln, welche Inseln gleich hell und licht aus dem Dunkel der Tiefe traten; es konnte schwelgen im Anschauen der so prächtig gefärbten Massen mit ihren silbernen Schneedächern; aber das Ohr lauschte lange vergeblich nach einer befreundeten Stimme. Nur einmal schwirrte fast lautlos ein Volk Alpenschneehühner vor uns auf, es war aber schon wenige Minuten später wieder zwischen den dunkeln Steinen verschwunden. Endlich begegneten wir aber doch einigen andern Vögeln. Drei Bussarde wiegten sich in der Höhe; einige Regenpfeifer ließen ihre kläglichen Stimmen erschallen, und ein Schneeammer zeugte durch sein Erscheinen von der Höhe, in welcher wir uns befanden. Lautlos schritten wir weiter, auf und nieder, über die Rücken der Berge hin, an dem einen hinauf, an dem andern hinab; noch wollte unser Wild sich nicht zeigen. Endlich sagte der Alte:

„Hier hat ein Thier heute sich geäßt; schau Er her, diese Pflanzen sind frisch abgebissen, und hier liegt ein Stengel daneben, noch saftig und unverwelkt.“

Das war ein Zeichen, auf welches ich freilich nicht geachtet hätte. Nach einigen Schritten mehr fand nun aber auch ich Spuren der hier vorübergegangenen Rennthiere auf. Eine feuchte schlammige Stelle zeigte die Fährte eines alten Thieres so scharf und so frisch, daß gar kein Zweifel übrig bleiben konnte: in der Nähe mußten Rennthiere liegen. Nun wurde gesucht mit Augen und Fernrohr, aber vergebens. Hundert Male glaubte ich mein Wild zu sehen: immer waren es Steine, welche mir entweder die Gestalt des Leibes oder recht tückisch sogar die der Geweihe eines Rennthieres vorspiegelten. Doch dort in weiter Ferne lagen Rennthiere: diese Formen waren zu regelmäßig, als daß sie Steinen angehören sollten.

„Alter, da sind sie!“

„Wo? Dort! Ja richtig!“

Und wieder schüttelte das Jagdfieber den alten Knaben, aber nur einen Augenblick. Langsam und äußerst vorsichtig gingen wir weiter; deutlicher traten die Umrisse hervor, und das Fernrohr gab endlich volle Gewißheit. Sofort begann der Alte seine Vorsichtsmaßregeln anzuwenden. Zuerst sank er äußerst langsam und gleichmäßig zusammen und forderte mich auf ein Gleiches zu thun; „denn,“ sagte er, „jede rasche Bewegung verscheucht die Thiere augenblicklich.“ Nun wurde der Wind geprüft. Ich that es, indem ich meinen Finger näßte und ihn dann empor hielt, um durch das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_089.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)