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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

unverkennbar und von der höchsten Bedeutung für unsre ganze Welt- und Naturanschauung.

Aber seine volle Wichtigkeit lernen wir erst einsehen, wenn wir dasselbe auf unser eignes Geschlecht, auf den Menschen anwenden. Denn der Fortschritt[1] in dem Kampf um’s Dasein ist nicht blos ein physischer, sondern auch ein intellectueller, ein geistiger. Geistige Anlagen, Triebe und Neigungen, einerlei ob angeboren oder erworben, vererben sich ebenso auf die Nachkommen, wie körperliche Vorzüge oder Abänderungen, wofür eine Menge der schlagendsten Beispiele bekannt geworden sind, und auf diese Erfahrung gestützt, sowie auf die merkwürdigen Nachweise, welche Darwin über die allmähliche Heranbildung und Vererbung der Instincte und Geistesthätigkeiten der Thiere gegeben hat, wird man nicht unschwer zu dem Schlusse gelangen, daß jedes Vermögen und jede Fähigkeit des Geistes nur stufenweise erworben werden kann – eine Idee, nach welcher ein englischer Schriftsteller, H. Spencer, schon im Jahre 1855 die Geisteslehre neu zu bearbeiten versucht hat. Daher ist denn auch bei dem Menschen, als dem höchsten und mit den besten geistigen und körperlichen Hülfsmitteln und demnach auch mit dem stärksten Streben nach Vervollkommnung ausgerüsteten Wesen der Schöpfung, der Kampf um das Dasein der heftigste, unbarmherzigste und erfolgreichste. Wie viele Stufen seines eignen Geschlechts der heutige Mensch schon hinter sich und überwunden hat, nachdem die unter ihm stehende Thierwelt überall, wo sie ihm im Wege war, mit Leichtigkeit von ihm verdrängt worden ist, wissen wir nicht; aber unter den jetzt lebenden Menschenracen wird ein gegenseitiger Kampf geführt, wie kaum irgendwo unter Naturwesen, ein Kampf, bei dem die jüngsten und demnach vollkommensten oder wenigstens am besten angepaßten Racen auch die meiste Aussicht auf Erfolg haben.

Für die ältesten Racen gelten Polynesier und Rothhäute, und in der That sehen wir diese mit einer fast unglaublichen Geschwindigkeit vor dem Andrange der weißen Race verschwinden, bis bald nur noch die Urkunden der Geschichte oder der Erdrinde Zeugniß von ihrem Dasein ablegen werden. Am jüngsten und lebenskräftigsten mögen die kaukasische und die Neger-Race sein, letztere für die heißen, erstere für die gemäßigten Klimate, und daher voraussichtlich nach und nach alle anderen Menschenracen von der Erdoberfläche verschwinden machen! Blicken wir nicht hinter, sondern vor uns in die Zukunft, so sind wir im Stande, unsre Phantasie mit dem Bilde einer noch vollkommneren oder besser angepaßten lebenskräftigeren Race zu erfüllen, welche unsern Nachkommen vielleicht dasselbe Schicksal bereiten wird, das wir gegenwärtig unseren schwächeren Mitracen bereiten. Auch die geistigen Fähigkeiten und Leistungen dieser Race werden die unsrigen so sehr übertreffen, daß sie auf uns ungefähr mit denselben Gefühlen herunterblicken werden, mit denen wir selbst auf diejenigen unsrer Vorfahren herabsehen, welche einst die Pfahlbauten in den Schweizer-Seeen oder die Steinäxte im Thale der Somme anfertigten!

Diejenigen, welche aus der Betrachtung des ewigen Kampfes und gegenseitigen Mordens in der Natur ein beunruhigtes oder erschrecktes Gefühl davon tragen möchten, sucht Darwin mit dem Gedanken zu trösten, daß der Krieg nicht ununterbrochen ist, daß keine Furcht gefühlt wird, daß der Tod im Allgemeinen schnell ist und daß es meist der Kräftigen, Gesündere und Geschicktere ist, welcher den Sieg davonträgt. –




Blätter und Blüthen.

Auflösung des physiognomischen Bilder-Räthsels. (Siehe Nr. 3.) Jenes Portrait stellt den Sohn des ehemaligen Königs Ludwig von Holland und der Königin Hortense vor, den Neffen Napoleon I., denselben, der jetzt auf dem französischen Kaiserthrone sitzt – und sich Napoleon III. nennt. Die Originalzeichnung, von der wir unsre Copie entlehnten, wurde im Jahre 1836 vom Maler Figoux nach der Natur entworfen, und zwar zu Straßburg im Gefängnisse, wohin Louis Napoleon abgeführt wurde, nachdem seine versuchte Militär-Revolte gegen Louis Philipp mißlungen war. –

Durch sonderbare Fügungen, die näher in bezeichnen uns nicht gut zulässig scheint, kam, wie wir bereits früher bemerkten, die Originalzeichnung in den Besitz des Herrn Hofschauspieler Kriete in Dresden, dem wir die Erlaubniß zu unsrer Copie und deren Veröffentlichung verdanken.

H. K.


Das Neujahrsgeschenk, welches bekanntlich in Paris eine große Rolle spielt, ist merkwürdigerweise weniger den Verhältnissen des Gebers als vielmehr denen des Empfängers angemessen.

Ist es einem jungen Manne gelungen, sich einigermaßen in einer Familie einzubürgern, d. h. erhält er zu den verschiedenen Soiréen regelmäßige Einladungen, erweist ihm der Herr Papa die Ehre, ihn als ergänzenden vierten Mann an den Whisttisch zu schmieden, versagt ihm Fräulein Tochter die neunte Quadrille nicht, so zählt er zu den Intimen und muß diese Ehre am ersten Januar mit einer, resp. zwei Schachteln Bonbons für Fräulein Tochter, oder selbst Mutter und Tochter, bezahlen. Natürlicherweise muß dies Geschenk den unverkennbaren Stempel eines renommirten Hauses tragen. Unter den unzähligen Bonbonhändlern haben eigentlich nur vier oder fünf bedeutenden Ruf. Boissier, Gouache, Marquis (für Chocoladenbonbons) und jetzt auch Giraudin, der Exvaudevillist, der dem attischen Salz seiner lustigen Schwänke jetzt die Süßigkeiten des materiellen Geldverdienens vorzieht. Einer einigermaßen anständigen Dame kann man nur ein aus einem der erwähnten Häuser bezogenes Geschenk anbieten. Die Herren Lieferanten, die diese Nothwendigkeit wenigstens ebenso genau kennen, als die Käufer, lassen sich ihren Ruf gehörig bezahlen. Ihre Preise liegen außer dem bescheidenen Horizonte eines guten deutschen Unterthanenverstandes. Wie gewöhnlich wird auch hier auf das Aeußere mehr Werth gelegt als auf den Inhalt. Das kleine, geschmackvolle Kistchen mit dem Namen des Fabrikanten ist die Hauptsache, der Inhalt, die Bonbons selber, nur eine angenehme Nebensache.

Daher kommt es, daß folgender unschuldige Betrug sich sehr verbreitet hat. Junge Leute, die beschenkte Personen in ihrer Verwandtschaft haben, Schwestern oder freundliche Cousinen, lassen sich einige der geleerten Kistchen, wenn die Festlichkeiten vorüber sind, schenken (manchmal für Geld und gute Worte). Beim nächsten Neujahr gehen sie zum simplen Materialwaarenhändler und kaufen für ein paar Franken Bonbons, die dann unter der wohlgesehenen Etiquette eines Boissier einer andern Dame als echte Wann angeschmuggelt werden. Ich habe ein und dieselbe Kiste in Zeit von vier Jahren, zu meinem großen Erstaunen, bei vier verschiedenen Damen meiner Bekanntschaft am 1. Januar auf dem Salontisch paradiren sehen.

Die Conditors, die in den letzten zehn Tagen des Jahres mehr Geschäfte machen, als in den vorhergehenden 355, sind um diese Zeit freigebig, wie zufriedene Leute. Sie gestatten dem Käufer, von allen Bonbons zu naschen, wonach ihm der Gaumen steht, ganz nach Discretion. Daß es da nicht an indiscreten Schwerenöthern fehlt, ist um so erklärlicher, als das scheidende Jahr dem armen jungen Teufel das Leben recht vergällt und er deshalb keine Gelegenheit vorübergehen läßt, sich einige Stunden etwas zu versüßen. So giebt es elegante Stutzer, die für zehn Sous Pfefferminzkuchen kaufen und für fünf Franken Erdbeerbonbons gratis verzehren. „Die Menge muß es bringen,“ trösten sich die Conditors und werden zu reichen Leuten. In sehr bescheidenen Kreisen werden die Bonbons durch wohlfeile Apfelsinen ersetzt.

Außer dem ceremoniösen Neujahrsgeschenk der Bonbons tragen noch alle anderen verkaufbaren und schenkbaren Waaren im letzten Monat des Jahres den verlockenden Namen: „Charmantes Etrennes!“ Spielzeug für die Kinder, Möbel für junge Chambre-garni-Bewohner, Bücher für „die reifere Jugend“, Modeartikel für die sittige Hausfrau, Alles in einem Worte wird im Schaufenster der Verkäufer, als „passende“ oder „reizende Neujahrsgeschenke“ angekündigt. Als solche figuriren z. B. bei den Apothekern Salmiak für Gichtleidende, Krähenaugenpflaster und andere reizende Ueberraschungen.

Der Boulevard hat sein garstiges Sonntagskleid angelegt, das ihm gar nicht steht. Auf beiden Trottoirs ziehen sich zwei lange Reihen häßlicher Buben, vom Bastillenplatze bis zur Madeleine, hin. Kreischende Krämer bieten ihre „reizenden“ Waaren aus, bedrängte Schenker machen ihre Einkäufe. Alles schreit und tobt und jagt durcheinander und längs der Häuser lungert das gräßliche, bleiche Elend, der zerlumpte Bettler, der furchtbar entstellte Krüppel, der die melancholischen Töne seiner verstimmten Leier in den allgemeinen Tumult mischt. Das ist das Weihnachtsgeschenk, das die Pariser Municipalbehörden der Armuth und dem Gebrechen machen: die Freiheit, die öffentliche Gleichgültigkeit mit ihrem oft Abscheu erregenden Elend zu erschüttern. Aber jede Freiheit hat hier zu Lande Geldeswerth. –

Kleine Kinder, die Affen ähnlich in eine Zuavenuniform gesteckt sind, trippeln selig hinter dem Regenschirme ihres Vaters her. Die Actien der Zuaven sind jedoch diesmal etwas gefallen. Speculanten, die den Zeitverhältnissen Rechnung tragen, haben die bunte Uniform der afrikanischen Garde durch das rothe Hemde des italienischen Dictator vortheilhaft ersetzt. Ich bin wenigstens einem Dutzend kleinen Garibaldi’s, mit einer feuchten Nase, rothem Hemde, langem Schleppsäbel und einem schwarzen Filzhute mit wallender schwarzer Feder begegnet, außerdem trugen die armen, kleinen Bälge graue, leinene Hosen, bei drei Grad Kälte! Da Alles, was um und an dem Soldatenstande hängt, den kleinen Kindern am meisten Spaß macht, sind die Buden mit Trommeln und Trompeten, Gewehren und Kanonen, klirrenden Säbeln und rasselnden Cürassen, in großer Mehrzahl vertreten, lauter geräuschvolle Zerstreuungen, die im Verein mit dem allgemeinen Skandal den Boulevard zu einer wahren Verdipartitur machen. Zwei dieser Spielsachen haben dies Jahr


  1. Vorlage: Forschritt
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_095.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2023)