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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

wissenschaftliches Portrait, sondern ein ganzes compenirtes Bild vorführen. Das Programm dieser Vorträge wird mit der Direction des öffentlichen Unterrichts vereinbart, von welcher auch meist die Initiative ausgeht; man sorgt dafür, daß jeden Abend von 8–9 Uhr eine Vorlesung Statt habe und daß in der Wahl der Stoffe naturwissenschaftlichen, politischen und literarischen Inhaltes die nöthige Abwechslung gegeben sei. Zum Verständniß dieser Einrichtung erlaube ich mir hier, das Programm der diesjährigen Vorlesungen mitzutheilen – vielleicht, daß auch anderwärts das Streben Genfs Nacheiferung findet.

Erste Serie. Vom 10. November bis 22. December 1860 Montags und Donnerstags. Professor Privat über Experimentalchemie. Zehn Vorlesungen. Dienstags und Freitags. Professor Dameth, Geschichte des Handels. Zehn Vorlesungen. Mittwochs und Samstags. Doctor Claparède. Physiologie des Menschen. Zehn Vorlesungen.

Zweite Serie. Vom 7. Januar bis 9. Februar 1861. Montags und Donnerstags. Professor Vogt über nützliche und schädliche Thiere. Zehn Vorlesungen. Dienstags und Freitags. Professor Amiel über Philosophie der Muttersprache. Zehn Vorlesungen. Mittwochs und Samstags. Professor Humbert über die französischen Moralisten. Zehn Vorlesungen.

Man kann sagen, daß diese Vorlesungen jetzt, nach mehrjähriger Uebung, eine Gewohnheit des Volkes, der höheren Stände wie der Arbeiterclassen, geworden sind. Das durch Maueranschläge, Anzeigen in allen Journalen und besonderen Blättern veröffentlichte Programm detaillirt den Gegenstand jeder einzelnen Vorlesungsstunde und läßt Jeden zum Voraus wissen, worüber der Vortragende sprechen wird. Man bemerkt sehr bald, daß sich für jeden Vertrag ein besonderes Publicum bildet, welches für den besprochenen Gegenstand ein specielles Interesse zeigt und häufig durch Briefe und Anfragen nach der Vorlesung seine Sympathie oder seinen Widerspruch zu erkennen giebt. Der Eifer, womit man sich zu den Vorlesungen drängt, das Interesse, womit dieselben in der Presse, in öffentlichen und Privatcirkeln besprochen werden, zeigen jedenfalls, daß die Einrichtung an und für sich keine verfehlte, der Einfluß derselben ein bedeutender sei.

Die ersten Vorlesungen, welche ich vor einigen Jahren über allgemeine Geologie hielt, liegen schon seit längerer Zeit gedruckt vor mir in Gestalt eines elegant ausgestatteten Buches in französischer Sprache, dessen Erscheinen leider durch widrige Verhältnisse bis jetzt verhindert wurde. Zur Bearbeitung der nachfolgenden Vorlesungen in deutscher Sprache, also in Uebersetzung (denn trotzdem, daß Genf denselben Reichsadler im Wappen führt, ist es doch in Sitten, Leben und Sprache eine französische Stadt), gab der Verleger und Herausgeber der Gartenlaube, durch eine Freundes-Aeußerung bestimmt, die Veranlassung. Wenn auch das Niederschreiben eines durchaus frei gehaltenen Vortrages einige Schwierigkeiten haben mag und das Fehlen der Illustrationen, die in den Vorlesungen selbst durch große Wandmalereien ersetzt sind, einen Reiz weniger veranlassen mag, so hoffe ich doch für die Vorträge in dieser Gestalt eine eben so vortheilhafte Aufnahme, als die gesprochenen Vorlesungen bis jetzt in der freilich sehr zu ihrem Vortheil geänderten Stadt Calvin’s gefunden zu haben scheinen.

Genf den 22. Januar 1861.

Carl Vogt.




Erste Vorlesung.

Meine Herren!

Vor etwa zehn Jahren wurde ich in Nizza von einem befreundeten Abbé gebeten, die Verwüstungen eines großen Artischockenfeldes zu untersuchen, das von einem Raupenheere auf die jämmerlichste Weise zugerichtet wurde. Wir fanden den Besitzer mit seinem ganzen Hausstande in einer Art von Verzweiflung; die Hälfte der Ernte eines wenigstens vier Morgen großen Feldes war schon unrettbar verloren! Ich erkannte die Raupe auf den ersten Blick an ihrer braungrauen Farbe und den weißen verästelten Dornen als diejenige des Distelfalters (Vanessa cardui), die ich in meiner Jugend öfters zum Schmetterlinge erzogen hatte. Auf der einen Seite eines trockenen Grabens, der das Feld in der Mitte durchschnitt, standen nur noch die Rippen der verdorrenden Artischocken empor, von Tausenden emsig fressender Raupen besetzt; über den Graben hinüber waren die Raupen noch nicht gelangt. Ich rieth, denselben sogleich voll Wasser zu pumpen, um auf diese Weise dem Weitergreifen der Verwüstung ein Ende setzen und dann sich mit der Vertilgung des Geschmeißes im angegriffenen Theile beschäftigen zu können. Mit Achselzucken erklärte der Landwirth, man könne wohl nichts Verkehrteres ersinnen; – die Würmer seien vor acht Tagen etwa als ganz kleine Dinger mit einem starken Südwinde über das Meer aus Afrika herübergekommen und würden sich also nicht durch einen Wassergraben, der einige Fuß breit sei, abhalten lassen. Ich gab mir vergebliche Mühe, dem Manne den Zusammenhang zwischen einigen verblaßten Distelfaltern, die noch umher flogen, und diesen Würmern klar zu machen. Er blieb hartnäckig bei seiner Ansicht von der afrikanischen Abstammung und der Unmöglichkeit der Eingrenzung durch Wasser, ließ einige Messen gegen die teuflische Wirthschaft der Würmer lesen und sah mit der gläubigen Ergebung des duldenden Christen der Verwüstung der zweiten Hälfte des Gutes ruhig zu, ohne irgend welche Gegenmaßregeln zu ergreifen.

Ich muß gestehen, daß dieser Vorfall mich aufmerksam machte. Die Unkenntniß des italienischen Landmanns ist allerdings bedauernswerth; allein können wir, die wir uns höherer Civilisation rühmen, jenem Nizzarden gegenüber unser Haupt so stolz erheben? Leben nicht unzählige Vorurtheile überall, unter dem Volke, wie unter den Gebildeten fort, und thut nicht der Landmann, der mit höchster Befriedigung einen Bussard oder eine Eule an sein Scheunenthor nagelt und dem Maulwurfsfänger einige Groschen für jeden gefangenen Maulwurf bezahlt, sich noch obenein einen directen Schaden an, indem er den Feind seiner Feinde aus dem Leben schafft, während der Italiener doch nur einem wirklichen Uebel gegenüber eine ohnmächtige Hülfe anrief, die er in seinem naiven Glauben für wirksam hielt?

Indem ich hier von den schädlichen und nützlichen Thieren reden will, fasse ich diese Begriffe ganz im Sinne des hausbackenen menschlichen Egoismus, ohne mich weiter um die große Frage des Guten und Bösen in der Natur in irgend einer Weise zu bekümmern. Ich beschränke mich durchaus auf die Beziehung der Thiere zu dem Menschen, den ich als unbeschränkten Tyrannen der Schöpfung de facto anerkenne und sage: die Feinde unserer Feinde sind unsere Freunde – die Freunde unserer Feinde unsere Feinde – die Freunde unserer Freunde unsere Freunde – wie das alte französische Sprüchwort sagt: Alles was uns zuwider ist, ist schädlich; Alles was uns direct oder indirect durch Vertilgung unserer Feinde Beistand leistet, nützlich.

Auf diesen letzteren Punkt möchte ich namentlich aufmerksam machen. Die wirkliche Natur ist ein beständiger Kriegszustand, ein unablässiger Kampf um das Dasein gegen Feinde und Concurrenten, dem nur stellenweise durch den Winter das beschränkte Halt! eines zeitlichen Waffenstillstandes zugerufen wird. Wenn wir vom Frieden in der Natur sprechen, so tragen wir nur unsere augenblicklichen Gefühle in dieselbe über und geben uns einer durch unsere innere Stimmung motivirten Täuschung hin. Es mag uns sehr friedlich und behaglich stimmen, im frischen Waldesgrün, am Ufer eines murmelnden Baches, im schwellenden Moose zu lagern; aber nichtsdestoweniger lauert überall um uns her, in der Luft, in dem Grase, in der Erde und in dem Wasser, die Vernichtung und spinnt sich der beständige Krieg um die Existenz zwischen all’ den großen und kleinen Thieren fort, deren Bewegungen unser Auge mit Wohlgefallen folgt. Jenes Vögelchen, das so graziös von Zweig zu Zweig hüpft und zuweilen seinen Gesang ertönen läßt, hegt während seiner scheinbar friedlichen Beschäftigung nur Mordgedanken gegen die Fliegen, die sich auf den Blättern des Baumes sonnen; der Specht, den wir in der Ferne hämmern hören, klopft Käfer und Larven zu seinem Mittagsmahle hervor; die Schlupfwespe, welche von Blume zu Blume wippt, sucht ein unglückliches Opfer, auf dessen Kosten sich ihre Nachkommenschaft ernähren soll. Der Mensch steht mit seinen Culturen, mir seiner Sorge um die eigene Existenz, die er nur auf Kosten der übrigen Geschöpfe erhalten kann, mitten in diesem Kampfe, und wer darin sein Bundesgenosse ist, wenn auch diese Bundesgenossenschaft nur aus rein egoistischen Absichten hervorgeht – den nimmt er nicht nur an,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_106.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)