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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Nordamerika und seine Zustände.

Zur Aufklärung der jetzigen Krisis.

Bis vor Kurzem war es der Stolz der Vereinigten Staaten, daß jeder der Regierungswechsel, welche alle vier Jahre durch die Wahl eines neuen Präsidenten erfolgen, ohne Erschütterung vorüberging. Die Parteien kämpften bis zum Augenblick der Entscheidung mit einer Erbitterung, in der etwas von der Wuth eines Bürgerkriegs lag, aber kaum war das Ergebniß der Abstimmung bekannt geworden, so schwieg der Sturm plötzlich. Die Sieger bemächtigten sich der höchsten Gewalt einschließlich aller von ihr abhängenden Aemter und Stellen, die Besiegten trösteten sich mit der Aussicht, nach dem Ablauf von vier kurzen Jahren ihren Candidaten auf den Präsidentenstuhl zu führen. Nach der letzten Wahl Abraham Lincoln’s bieten die Vereinigten Staaten dieses erhebende Schauspiel der Selbstunterordnung der unterliegenden Partei unter den Ausspruch des Volkswillens nicht dar. Fast gewinnt es den Anschein, als sollte die verächtliche Gewohnheit der Creolenrepubliken im Süden des Welttheils, die verfassungsmäßige Entscheidung durch einen Bürgerkrieg umzuwerfen, Nachahmung finden. Im Süden ist nichts als wüstes Geschrei und Geheul; man rüstet, man nimmt Bundeseigenthum weg, man begeht gegen Männer aus dem Norden Niederträchtigkeiten. Tausende wiederholen den wahnwitzigen Ruf des Südcaroliners Keitt: „Wir wollen, wie Simson, die Stützpfeiler des ganzen Bundesgebäudes einreißen!“ und die höchste Autorität, James Buchanan, bestätigt in einer Botschaft an den Congreß, daß die Union sich mitten in einer großen Revolution befinde.

Erreichte der Wahnsinn sein Ziel, woran wir aus guten Gründen zweifeln, so wäre es ein stolzes, ja riesiges Gebäude, das, Alles in einen gemeinsamen Untergang verwickelnd, über den Köpfen der Nordamerikaner zusammenbräche. Ueber 129,036 deutsche Geviertmeilen erstreckt sich das heutige Gebiet der Union. Die beiden großen Weltmeere branden an seinen Küsten, in die hier wie dort, auf dem atlantischen wie auf dem pacifischen Abhange, Buchten eingeschnitten sind, welche die prächtigsten Häfen der Welt bilden. Herrliche Wassersysteme dienen dem Verkehr, dem die Natur durch eine fast verwirrende Fülle von Erzeugnissen aller ihrer Reiche eine unvergleichliche Grundlage gegeben hat. Sowohl die Mineralien, denen der rohe Glücksjäger nachtrachtet, Gold und Silber, als jene, denen der stetig vorwärts strebende Arbeiter den Vorzug giebt, Eisen und Steinkohlen, sind in unerschöpflichen Lagern vorhanden. Der Thiere des Waldes und der Grasebenen, der Seen und Flüsse sind so viele, daß man sie wenig achtet. Von den werthvollen Handelspflanzen, die nicht im Gürtel der Tropen heimisch sind, fehlt keine, und einige von ihnen beherrschen den Weltmarkt. Diese Gunst der Natur hat der Nordamerikaner mit einer Klugheit und Energie ohne Gleichen für sich zu benutzen verstanden. Im rastlosen Schaffen ist er zu einer Handelsbewegung gelangt, die für die jährliche Einfuhr und Ausfuhr Werthe im Betrage von 674 Millionen Dollars liefert, zu einer Handelsflotte, die bereits die zweite der Welt ist, zu einem Canal- und Eisenbahnsystem, das wie ein dichtes Netz Thäler und Ebenen bedeckt, zu einer Industrie, welche jene der ältesten Länder in mehr als einer Beziehung überholt hat, und endlich, um mit der rühmlichsten Thätigkeit zu schließen, zu einem Erziehungswesen, dem mit dem Aufwand von Millionen eine immer höhere Vollendung gegeben wird.

Die verhältnißmäßig kurze Zeit, in der unter einem ewigen Kampfe mit der Wildniß diese hohe Stufe erreicht worden ist, darf die Bevölkerung der Union mit Stolz erfüllen. Nicht ganz dritthalb Jahrhunderte verflossen, seit die Pilgerväter, die eigentlichen Ahnherrn der heutigen Republik, den Anker der Maiblume am 11. December 1620 in einer Bucht am Cap Cod fallen ließen. Die sogenannten neuenglischen Staaten, die von ihnen besiedelt wurden, gestalteten sich zum Kern, um den ein Staat nach dem andern sich ansetzte. Schon 1643 wurde zwischen vier Staaten der erste Bund geschlossen, dessen die amerikanische Geschichte erwähnt. Bei dem großen Revolutionskampf standen dreizehn Staaten, seitdem die alten genannt, zu einander. Es waren Georgien, die beiden Carolina’s, Virginien, Maryland, Delaware, Connecticut, Massachusetts, Newyork, Pennsylvanien, Neu-Jersey, Rhode-Island und Neu-Hampshire. Maine und Vermont, Ohio, Indiana, Illinois, Michigan, Kentucky, Tennessee, Alabama und Mississippi wurden als neue Staaten aus dem alten Gebiet der Republik durch Besiedlung gebildet, Florida und Oregon durch Verträge mit Spanien und England, das unter dem Namen Louisiana begriffene, die heutigen Staaten Louisiana, Arkansas, Missouri, Iowa, Wisconsin und Minnesota umfassende Gebiet durch Kauf von Frankreich, Texas und Californien durch Eroberung von Mexico gewonnen.

Die Verfassung, welche die dreizehn alten Staaten nach der glücklichen Beendigung des Kampfes gegen England sich gaben, ist das Ergebniß eines jahrelangen Streites zwischen den Anhängern des Föderalismus und der Centralisation. Wie in Amerika Manches umgekehrt als bei uns sich ereignet, so war es auch bei dieser Gelegenheit. Nicht die Particularisten und Souveränetätsschwindler waren diejenigen, welche am Alten klebten, sondern die Männer des Fortschritts. In dem blinden Wahne, daß eine starke Centralgewalt der Freiheit den Tod bringen werde, wollten sie dem Bunde die nöthigsten Rechte verweigern. Während dieses Streites gab ein Staat des Nordens, Massachusetts, das erste Beispiel einer Drohung mit dem Austritt aus der Union und gebehrdete sich ziemlich eben so unvernünftig, wie wir es heutzutage an den „Feueressern“ des Sclavenstaats Südcarolina erleben.

Weit entfernt, die Freiheit der Einzelstaaten zu beeinträchtigen, hat die Verfassung von 1787 dem Eigenwillen derselben einen bedeutenden Spielraum gelassen. Jeder Staat besitzt eine eigene Verfassung, Volksvertretung und Gesetzgebung, eine eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Der Centralgewalt, die durch einen Präsidenten, Vicepräsidenten und Ministerrath wie durch einen in zwei Häuser getheilten Congreß dargestellt wird, sind nur die Rechte und Befugnisse vorbehalten worden, ohne die sie ein Schatten, so eine Art von deutschem Bund, sein würde. Der Congreß erhebt Abgaben, Zölle und Steuern, schließt Verträge mit fremden Staaten, erhält ein Heer und eine Kriegsflotte, nimmt neue Staaten in den Bund auf, macht Anleihen und läßt Geld prägen, erläßt Naturalisationsgesetze und gleichmäßige Bankerottgesetze und errichtet ein Obergericht wie Mittelgerichte, deren Zuständigkeit indessen auf bestimmte Fälle beschränkt ist. Sollte einmal die Gefahr eintreten, daß das Unterhaus (Repräsentantenhaus) aus diesem gesetzlichen Kreise heraustreten und in die Rechte der Staaten eingreifen wollte, so würde das Oberhaus (der Senat), in das die Volksvertretung jedes Einzelstaats, des kleinsten wie des größten, zwei Mitglieder schickt, ein solches Beginnen sofort vereiteln.

In dieser weisen Vertheilung der Gewalt zwischen der Centralregierung und den Einzelstaaten sehen wir den Hauptgrund, daß die Verfassung allen Stürmen der Parteikämpfe Widerstand geleistet hat. Die himmelweit verschiedenen Interessen des Südens, Westens und Nordens haben sich im Ganzen friedlich neben einander entwickeln können. Allerdings sind Erschütterungen vorgekommen, und mehr als einmal hat ein Staat, gewöhnlich Südcarolina, mit dem Austritt aus der Union gedroht, aber immer noch haben die Sturmwogen, so hoch sie auch gehen mochten, sich von selbst geglättet, und wirkliche Conflicte von Interessen durch Vergleiche beizulegen ist nicht ein einziges Mal mißlungen. Angesichts dieser fast hundertjährigen Erfahrung erwarten wir, daß die jetzige Krisis gleich den frühern überwunden werden wird, wenn wir auch nicht verkennen, daß der Gährungsstoff, den wir in diesem Augenblicke an einer Zersetzung des großen Staatenbundes arbeiten sehen, seit langer Zeit sich angesammelt hat.

Wie Jedermann weiß, ist es die Sclaverei, die zum sprengenden Keil zu werden droht. Nicht allgemein bekannt dürfte es sein, daß das „eigenthümliche Institut“ den Nordamerikanern ursprünglich aufgedrungen worden ist. Sealsfield hat eine Reihe von Urkunden veröffentlicht, aus denen hervorgeht, daß die nördlichen wie die südlichen Staaten einschließlich Georgiens und Südcarolina’s fortwährend und immer vergeblich dagegen protestirten, daß die englischen Kaufleute in Ermangelung eines gleich einträglichen Ausfuhrartikels schwarze Sclaven in ganzen Ladungen auf die nordamerikanische Küste warfen. Zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung gab es in allen Staaten Sclaven. Die nördlichen beeilten sich, den Schmutzfleck der Sclaverei auf ihrem Gebiet auszutilgen. Maine, Neu-Hampshire, Vermont, Massachusetts, Rhode-Island, Connecticut, Newyork, Neu-Jersey und Pennsylvanien lösten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_156.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)