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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

„Und?“

„Sie haben zwei Stuben bei mir bestellt, welche jetzt beide warm sind. Nun kommen aber so eben Fremde, die mich um eine warme Stube bitten. Wären Sie nicht so gütig, ihnen eine der Stuben abzutreten? Ich habe noch eine dritte, die lasse ich Ihnen dann sofort heizen.“

„Wer sind die Fremden?“ fragte ich.

„Eine Frau mit einem Kinde. Die Frau ist krank und darum kann sie auch nicht hier in der Krugstube bleiben.“

„Geben Sie der Frau die wärmste der beiden Stuben.“

Er ging.

Der Krüger hatte mich, während er mit mir sprach, nicht ansehen können. Sein Gesicht war mir verschlagen, sein Auge falsch vorgekommen. Mir war jetzt Alles verdächtig, daher ging ich ihm nach, denn ich mußte wissen, was es mit den Männern in den blauen Mänteln und mit der fremden Frau und ihrem Kinde war. Ich sollte nur wenig sehen und nichts erfahren. Und doch sah ich so viel und ich meinte, ich hätte mehr als genug erfahren.

In dem Hausflur stand ein ältlicher Mann in grober, fast ärmlicher polnischer Bauernkleidung, welcher ein schlafendes Kind von etwa anderthalb Jahren im Arm trug. Er sprach mit dem Wirth. Hinter ihm lehnte an einer Thürpfoste eine Frau, welche gleichfalls die ärmliche, grobe Kleidung der untersten Stände des armen Landes trug. Aber diese grobe Kleidung umschloß eine hohe, schlanke Gestalt. Der Gestalt entsprach das Gesicht, welches tief blaß, leidend, aber trotzdem von einer wunderbaren, fast erhabenen Schönheit war.

Die Frau war krank. Erschöpft lehnte sie an der Thürpfoste. Ihr Athem und ihre Brust schienen wie im Fieber zu fliegen. Dennoch hörte sie mit Spannung auf das Gespräch des ältlichen Mannes mit dem Wirthe. Einmal warf sie dabei einen plötzlichen und wie dankbaren Blick auf mich. Die Beiden sprachen polnisch mit einander; die Sprache war mir fremd; ich hatte daher nicht verstanden, was sie redeten. Der Blick verrieth mir, daß sie wohl über das Nachtlager sprachen und der Wirth gesagt hatte, ich hätte ihnen eine Stube abgetreten. Sie gingen mit dem Wirthe die Treppe hinauf, die hinten aus dem Flur zu den oben im Hause gelegenen Stuben führte. Der Mann in der bäuerlichen Kleidung mußte die kranke Frau führen und that es mit einer auffallenden Ehrerbietung.

Da war wieder eine Verkleidung, wieder ein Geheimniß. Aber dieses Geheimniß wollte mich drücken. Das Gesicht der Frau hatte so leidend ausgesehen und ihr Blick war ein ängstlicher gewesen. Ich mußte unwillkürlich mit ihr jene ungewöhnliche Bewachung der Grenze in Verbindung bringen, mit dieser wieder die verkleideten Männer in den blauen Wandmänteln und mit diesen dann die Zeit, in der wir lebten. Es war eine traurige, unglückliche Zeit für das arme Polenland.

Wir waren im Jahre 1832. Wenige Monden vorher war jener entsetzliche Kampf beendet, von dessen Ruhme die Geschichte ewig erzählen wird. Eine Reihe von Verfolgungen gegen die Besiegten hatte darauf begonnen. Noch Jahre lang wurden in allen Gegenden des Landes die Betheiligten der Revolution aufgesucht, heimlich oder offen, um dem Tode oder der lebenslänglichen Gefangenschaft zugeführt zu werden. Manchem gelang es wohl zu entfliehen, aber wie Mancher wurde noch an der Grenze wieder eingefangen, und dann war kein Entrinnen mehr möglich.

Mein Kutscher trat an mich heran, mit einer geheimnißvollen, fast ängstlichen Miene.

„Haben der Herr Director die Leute in den blauen Wandmänteln gesehen?“

„Ja.“

„Es sind russische Straßniks. Einer ist Officier.“

„Woher wißt Ihr das?“

„Ich belauschte sie im Stalle, in welchem sie ihre Pferde stehen haben. Der Officier befahl den Beiden, zur Grenze zurück zu reiten. Mehr verstand ich nicht. Sie sprachen sehr eifrig, aber sehr leise mit einander.“

Ich hatte durch die wenigen Worte mehr als genug erfahren. Ich hatte Verfolgte und Verfolger gesehen. Es drückte mich schwerer, unheimlicher. Die armen Verfolgten waren auch in Preußen nicht sicher. Ich wußte es, und die helle Gluth der Scham stieg mir in das Gesicht. Auch sie wußten es, darum die ängstlichen Blicke der Frau.

Ich hatte den Schulzen des Dorfes zu mir rufen lassen, da ich ihn wegen meiner Geschäfte des folgenden Tages sprechen mußte. Ich fragte ihn nach der Unruhe an der Grenze. Er wurde verlegen, aber dann fiel ihm ein, daß ich auch Beamter sei, und da dürfe er mir schon sagen, um was es sich handle. Eine polnische Herrschaft werde von den Russen verfolgt, erzählte er mir darauf. Der Mann sei in die Revolution verwickelt gewesen, und man habe die Leute erst jetzt aufgefunden. Sie seien entkommen und hierher nach der Grenze zu geflüchtet. Dort habe man ihre Spur verloren. Sie hätten aber noch nicht weit sein können, und seit einer halben Stunde wisse man, daß sie wirklich hier im Dorfe seien. Die Frau sei mit ihrem Kinde und einem alten Diener hier im Kruge. Der Mann fehle noch; wahrscheinlich hätten sie sich verabredet, mit ihm hier zusammenzutreffen. Daher habe man die Frau auch noch nicht arretirt; an dem Mann sei das Meiste gelegen, und da müsse man warten, bis der am späten Abend ankomme.

„Und wer soll die Leute arretiren?“ fragte ich, während zu der Gluth der Scham zugleich die des Zorns mir in das Gesicht schlug.

„Nun, ich, Herr Director.“

„Und von wem haben Sie dazu den Befehl, den Auftrag?“

„Es ist ein allgemeiner Befehl von der Regierung in Gumbinnen an alle Schulzen und Gensd’armen, den Requisitionen der russischen Behörden bei Verfolgung von Deserteuren und Ueberläufern Folge zu geben.“

„Sind denn diese Leute Deserteure oder Ueberläufer?“

„Ueberläufer! Der russische Gensd’armeriehauptmann da drinnen in der Krugstube sagt es.“

„Und dem Manne glauben Sie auf sein einfaches Sagen?“

Der Schulze wurde verlegen.

„Schulze,“ fuhr ich fort, „Sie sind auf dem Wege, sich in hohem Grade verantwortlich zu machen. Wenn ein preußischer Beamter, aber aus einem anderen Kreise, zu Ihnen käme, und die Verhaftung eines Menschen von Ihnen forderte, Sie würden eine schriftliche Legitimation von ihm fordern. Und dem ersten besten Russen, der hierher kommt, den Sie nicht einmal kennen, wollen Sie hier Menschen abliefern, von denen Sie auch nicht einmal wissen, ob sie Verbrecher sind oder nicht?“

Verantwortlichkeit! Es ist ein schweres Wort für einen Beamten, vom Minister bis zum Schulzen.

„Was soll ich machen, Herr Director?“ fragte mich der rathlose Schulze.

„Was Sie machen sollen? Erklären Sie dem russischen Gensd’armenhauptmann, wenn er Ihnen nicht einen schriftlichen Befehl des polnischen Grenzgerichts in Marianopel beibringe, so dürften und würden Sie hier Niemanden verfolgen und an ihn ausliefern. Ich nehme die Verantwortung auf mich.“

Es wurde dem guten Mann leichter. Er war bereit, so zu thun. Damit er fest bleibe, begleitete ich ihn in die Krugstube. Der Hauptmann war, nachdem er die beiden Straßniks, wahrscheinlich um noch mehr Mannschaft herbeizuholen, fortgeschickt hatte, in die Krugstube zurückgekehrt. Der Schulze gab ihm rund und klar seine Erklärung. Sie sprachen polnisch, aber mein Dolmetscher übersetzte es mir nachher. Der Russe polterte, schimpfte, warf wüthende Blicke auf mich und drohte dem Schulzen, welcher aber fest blieb. Der Russe stürmte aus der Stube, indem er noch einen boshaften, lächelnden Blick auf mich zurück warf. Zwei Minuten nachher hörte ich ihn im Galopp davon sprengen.

„Gewonnen!“ rief ich. „Die armen Menschen sind gerettet!“

Aber das Gesicht des Schulzen war ängstlich geworden.

„Gerettet, Herr Director?“ schüttelte er den Kopf. „Ja, wenn die Leute noch in der ersten Stunde sich von hier fort machen könnten! Aber die Frau war auf den Tod krank.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_162.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)