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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Er füllte auch sein Glas wieder.

„O, keineswegs. Aber darf ich fragen, von welchen Leuten Sie redeten?“

„Von dem armen Grafen Tomborski.“

„Ah, er ist ein Hochverräther.“

„Aber er soll mit Frau und Kind in die Gefangenschaft.“

„Haben sie nicht ihr Schicksal verdient?“

„Auch die Frau?“

„Warum sagte sie sich von dem Hochverräther seines Vaterlandes nicht los?“

„Aber das unschuldige, anderthalbjährige Kind denn?“

„Es ist ein Unglück für das Kind. Aber können alle Menschen nur glücklich sein?“

Ich konnte doch kaum meine äußerliche Kälte und Ruhe bewahren. Ich mußte es, wenn ich helfen sollte.

„Es ist bei alledem hart, denn es ist eine so hohe, angesehene Familie. Die beiden Gatten müssen sich innig lieben, da die Frau nicht fliehen, sich nicht retten wollte, um den verwundeten Mann zu pflegen, und der Mann wollte sich nicht befreien, um die kranke Frau nicht zu verlassen. So brachte Eins dem Andern das edelste, das erhabenste Opfer der treuesten Gattenliebe. Und dafür die ewige Nacht des Kerkers!“

Er war wieder etwas unruhig geworden.

„Sie vergessen doch das Trinken nicht, Herr Assessor?“

Er trank hastiger.

„Sie sind nachdenklich geworden, verehrter Herr! Ah bah! Wir Juristen haben ein Sprüchwort: „Fiat justitia et pereat mundus!“ Für die Polizei gilt es noch mehr. Und Sie werden einen hübschen russischen Orden erhalten. Den Wladimir! Was meinen Sie dazu? Stoßen wir auf ihn an.“

Er trank sein Glas aus.

„Und auf ihn muß nothwendig ein preußischer Orden folgen. Der rothe Adler! Stoßen wir auch auf ihn an. Aber füllen Sie vorher Ihr Glas! Ganz, bis an den Rand! Bei dem rothen Adler darf es nicht anders sein. Und bis auf die Neige muß ausgetrunken werden. Es wäre anders unpatriotisch.“

Er schenkte voll ein und trank ganz leer. Ein guter Patriot war er. Und – auch der Patriotismus berauscht ja. Die Falten in seinem Gesichte begannen zu glühen, seine Augen verschwammen, und aus seinem Innern kam Alles an das Tageslicht herauf, was darin noch verborgen gewesen und wer weiß seit wie vielen Jahren nicht zum Vorschein gekommen war.

„Ein Orden! Ja, ja! Vielleicht zwei! Und he, Sie schöne Laura Lautenschlag, geben Sie Ihr Singen auf und rücken Sie näher. Sie müssen auch anstoßen.“

Laura Lautenschlag ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie stieß mit an und trank aus. „Also wir reisen morgen zusammen, gnädiger Herr?“

„Versteht sich. In meinem Wagen, unter meinem Schutze.“

„Lassen Sie uns auf die Reise noch einmal anstoßen.“

„Ei ja, das wollen wir, Sie – Du Wetterhexe mit den großen, schwarzen Augen.“

Sie stießen noch einmal an und tranken noch einmal aus. Dann war es Zeit, hohe Zeit für ihn.

„Verehrter Herr Regierungsassessor,“ sagte ich zu ihm, „wollen Sie nicht jetzt zu dem Schulzen schicken?“

Er lachte, oder vielmehr er lallte ein Lachen.

„Was kümmern mich alle Schulzen der Welt! Unterbediente, Kroppzeug!“

„Sie haben Recht. Es ist auch sehr spät, und ich denke, wir gehen zu Bett.“

„Ja, ja, da bin ich mit dabei.“

Die aufregende Macht des heißen und hitzigen Getränkes hatte schon angefangen, der einschläfernden zu weichen. Auf einmal fuhr er auf.

„Verdammt, hätte ich beinahe etwas vergessen! Ich habe noch eine Bitte an Sie, Herr Director.“

„Sie haben über mich zu befehlen.“

„Der Krüger hat nur drei Kammern im Hause. Alle drei waren bei meiner Ankunft schon besetzt, und er sagte mir, ich müsse hier in der Krugstube auf der Streu schlafen, wenn Sie nicht die Güte haben wollten, mir zu Hülfe zu kommen. Dürfte ich Sie bitten, mir die Kammer Ihres Protokollführers zu überlassen?“

Mir bebte das Herz vor Freude. Er war mir entgegengekommen.

„Ei, mein Herr Assessor, Sie sollen meine Kammer haben.“

„O, ich bitte –“

„Keinen Widerspruch. Das versteht sich von selbst. Ein Mann von Ihrer Distinction–!“

„Ich danke Ihnen. Ich werde mich dessen erinnern.“

Er blähete sich zum letzten Male auf. Ich gab dem Dolmetscher einen Wink.

„Herr Secretair, wären Sie so gütig, dem Herrn Regierungsassessor das Zimmer zu zeigen, und meine Sachen in das Ihrige bringen zu lassen?“

Der alte Dolmetscher nahm den jungen Herrn, der nicht gut mehr gehen konnte, unter den Arm und führte ihn zu der Krugstube hinaus. Ich wandte mich dann an die Harfenspielerin.

„Sie werden auch müde sein, meine Schöne.“

Sie war noch aufgeräumt.

„O, um Mitternacht fängt mein Leben an.“

„Ich glaube es Ihnen. Aber ich möchte gern Ruhe haben.“

„Ich werde Sie ja da oben nicht stören.“

„Aber hier unten.“

„Wie?“

„Ich bin galant und trete Ihnen mein zweites Zimmer da oben ab. Ich und mein Secretair werden hier unten bleiben.“

„Ist das Ihr Ernst?“

„Mein voller Ernst.“

„Sie sind wirklich galant. Und da will ich auch sofort –“

Sie war schon aufgestanden und nahm ihre Harfe, ihren großen Shawl und ihr kleines Bündel und wollte gehen. Der Dolmetscher kehrte zurück.

„Lieber Secretair, dieser Dame überlassen Sie wohl Ihr Zimmer? Unsere Sachen werden dann hierher geschafft.“

„Sehr wohl, Herr Director.“

Der kluge Mann hatte mich verstanden, ohne daß er wußte, warum. Vielleicht hatte er es doch errathen. Die Schöne entfernte sich mit ihm. Ich athmete freier auf, denn ich hatte halb gewonnen Spiel. Da mußte ich auch die andere Hälfte gewinnen.

Der Dolmetscher kehrte zum zweiten Male lachend zurück.

„Erzählen Sie, Herr Secretair.“

„Den Herrn Assessor mußte ich in sein Zimmer forttragen. Ach, Freundchen, sagte er dann, ziehen Sie mir die Stiefeln aus. Ich kann es nicht mehr. Der verdammte Punsch! - Ich zog ihm die Stiefeln aus. Mit dem Anderen werde ich schon selbst fertig werden, sagte er dann. Aber er konnte es nicht; er taumelte mit den vollen Kleidern in das Bett. Und wie er lag, schlief er schon. Ich deckte ihn zu.“

„Und die Harfenistin?“

„Sie that sehr ängstlich. Sie werde hier oben doch wohl sicher sein? fragte sie mich. Wie in Abraham’s Schooß, antwortete ich ihr. Alles schläft schon, wie ein Ratz. Da ging sie in ihr Zimmer. Sie war auch wohl selbst müde.“

Mir wurde immer leichter um das Herz.

„Und nun rufen Sie mir den Krüger her,“ sagte ich zu dem Dolmetscher.

„Darf ich wissen, was Sie vorhaben?“ fragte er doch.

Ich theilte ihm mit, was ich erfahren, was ich errathen, was ich vorhatte. Er ging den Krüger zu holen. Er hatte den Menschen unten und oben im Hause umherschleichen sehen. Es war elf Uhr. Eine halbe, höchstens eine Stunde konnte ich noch Zeit haben. Aber zunächst mußte ich Gewißheit erlangen. Nur der Krugwirth konnte sie mir geben. Mit ihm hatte ich dann noch weit mehr zu sprechen. Er kam herein, keck, ängstlich und falsch, wie das böse Gewissen.

„Der Herr Director wünschten mich zu sprechen?“

„Mein Secretair und ich werden hier unten schlafen; wir haben unsere Zimmer oben vergeben.“

„Ich habe es bemerkt. Aber warum?“

„Warum, mein lieber Krüger? Blos um Ihretwillen.“

Ich sah ihn fest und scharf an. Er konnte mich nicht ansehen. Und doch konnte er unmöglich wissen, was ich meinte. Er sagte auch: „Mir wäre es lieber gewesen, wenn der Herr Director oben geblieben wäre.“

„Es käme darauf an. Aber beantworten Sie mir ein paar Fragen. Weiß der Assessor von der polnischen Familie, die da oben bei Ihnen logirt?“

Er stellte sich verwundert.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_179.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)