Seite:Die Gartenlaube (1861) 182.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

ihre eigene Zerrissenheit. Ober ihnen aber in der schwindligen Höhe ist wieder die schönste freie Alpenweide und sind Almen, und muntere Dirnen zwischen den weidenden Kühen und Ziegen lassen ihren Juchheruf und ihr Gejodel ertönen, um das Echo wach zu rufen, das in wunderbarer Kraft den ihm zugerufenen Ton wohl zwölfmal wiedergiebt und ihn zuletzt zu den entferntesten Schluchten und Wänden fortträgt.

Hier im baierischen Gebirg ist, wie im Ziller-, Unterinn- und Pusterthale, die Heimath der durch ganz Deutschland verbreiteten Schnaderhüpfel oder Schnaderhaggen, jener meist vierzeiligen Strophen, in welchen die Volkspoesie das Suchen und Finden, das Meiden und Leiden der Liebe in den mannigfachsten Wendungen bald in neckischer und satirisch spottender, bald in tiefempfundener Weise darstellt, und die durchschnittlich mit einem fröhlichen, himmelaufjubelnden Jodler oder einem plötzlichen grellen Aufjauchzen endigen. Oft sehr zart, oft jedoch auch sehr unzart, aber stets treffend und witzig lassen sie sich zu Hunderten und Tausenden zählen, während ihre weichen, in getragenen Tönen sich fortbewegenden Melodien kaum nach Dutzenden gerechnet werden können. Sie entstehen im Volke und Niemand kennt die Dichter, während ihre Gesänge von Mund zu Mund, von Thal zu Thal weitergetragen werden, wie einst die Gesänge Homers. Da klingt es wohl von den Bergen herab:

A Büchsel zum Schießen
Un an Stoßring zun Schlag’n
Un a Diendl zun Liebn
Muß a frischa Bue hab’n!

Oder in tiefelegischer Weise singt ein frischer, fröhlicher Gesell:

Schön blau ist der See
Und’s Herz thut mir weh,
Und wird nimmermehr g’sund,
Bis mein Diendl nit kumm’t.

Und Diendl, was thätst Du,
Wenn treffet’ mi’s Loos?
Du müßtest halt wandern
Auf’s Sterzinger Moos.[1]

Und wenn i amal g’storb’n bin,
Brauch i Weichbrunn koan’n;
Mein Grabl wird naß
Von mein Diendl sein Woan’n

Wie oft habe ich so gesehen in der einfachen Hütte, wo am hölzernen Tische die kräftigen Gestalten der Aelpler sitzen, wie sie uns hier die kunstgeübte Hand des Malers im Bilde dargestellt hat. Der kundige Spielmann unterhält die Gäste mit einem lustigen Liedchen, das er mit der beliebten Cither begleitet, während der eine der Genossen nach dem Takte der Musik die Füße hebt und im engen Gemach zu tanzen versucht. Das Maidele schenkt die Krüge voll, und bald steckt die freudige Lust auch die übrigen Anwesenden an. Oder der Aelteste und Erfahrenste erzählt eine abenteuerliche Geschichte aus seinem Jäger- und Wanderleben, durchwebt mit Spuk- und Geistermähren, und erntet dann den wohlverdienten Dank seiner Zuhörerschaft, die noch immer, wie alle Gebirgsbewohner, an Kobolde und Nixen, an Berggeister und fliegende Drachen, an Alraunen und Galgenmännchen glauben.

Ich bin mit einem Jäger, der zu den unermüdetsten Kletterern zählte, wiederholt hieher nach dem Wallberg gekommen und habe den alten Burschen kennen zu lernen genug Gelegenheit gehabt. In dem Wallberggewände hat sich einmal ein Mann versteckt gehalten, den der Irrsinn aus der Nähe der Menschen gebannt hat. Er war der Sohn eines wohlhabenden Bauers, und leider als Knabe schon in stetem widerspenstigem Streite gegen den Vater. Es war oft zu heftigen Scenen gekommen. Eines Tages waren Beide beim nahen Ziegelofen mit Ziegelbrennen beschäftigt, man hörte sie wieder einmal heftig streiten, dann war es plötzlich ruhig geworden. Der Bube kam gegen das Haus gelaufen und erzählte in großer Verwirruug, der Vater sei an der weiten Oeffnung des glühenden Ofens ausgerutscht und in der Gluth zu Grunde gegangen. Man hatte sich darüber allerlei Bedenkliches gesagt, aber die Sache beruhen lassen. Aus dem Buben wurde ein Mann; sein liebster Aufenthalt war in den Klüften des Gebirges, um der flinken Gemse und dem schlauen Murmentl (Murmelthier) nachzupirschen. Dort strich er, ein Jäger aus Liebhaberei, Tage und Wochen lange allein umher, wie Ahasverus nirgends Ruhe findend. Oefter wollte man Spuren von Irrsinn an ihm bemerken. Da kam einst die Nachricht, daß nach einem Vatermörder, der sich ins Gebirge geflüchtet, große Streife gehalten werden müsse: kaum hörte der Mann hiervon, als er unter den Anzeichen der höchsten Bestürzung in der mangelhaftesten Bekleidung sein Haus schnellstens verließ und unter dem Ausrufe: „Sie kriegen mich nicht! Es steigt mir Keiner nach!“ ins Gebirge entfloh. Von dem bekümmerten Eheweibe wurden viele Männer aufgeboten, den Entflohenen aufzusuchen.

Vergeblich durchstreifte man die Berge, als es einem verwegenen Wildschützen, welcher mit dem Flüchtigen in früheren Jahren öfters auf die Gemspirsche in die Wallbergwände gestiegen war, endlich beifiel, er könne sich etwa in jenen fast unzugänglichen Steinrevieren versteckt halten. Durch das Versprechen einer glänzenden Belohnung aufgemuntert, ließ der Wilderer sich bereit finden zu einem Versuch, jene Wände mit ihren Schluchten und Höhlen zu durchforschen; richtig gelang es ihm auch, den Gesuchten zu entdecken, dessen Kleider in Fetzen gerissen und dessen Füße blutrünstig waren. Trotzdem ergriff der Irre die Flucht und setzte in haarsträubender Hast von Klippe zu Klippe, ohne die freundlichen Zurufe des Suchenden zu beachten. Also aus den Wänden verscheucht, lief er den außerhalb harrenden Streifmännern gerade in die Hände. Von diesen gefangen genommen, begehrte er, ehe es zur Hinrichtung käme, einen Priester, um sein Gewissen vor ihm auszuschütten. Gegen alle Zureden, daß man ihn nicht hinrichten wolle, blieb er taub und starb als ein Opfer der Angst und Verzweiflung.

Vor nicht sehr langer Zeit besuchten zwei Gemsjäger jene Wände, und nach unsäglichen Mühseligkeiten war es ihnen auch gelungen, ein Gratthier zu erlegen, es der Tiefe, in die das erschossene Wild gerollt war, glücklich zu entreißen, und zu Thal zu steigen. Dort, wo die Rottach den berühmten Wasserfall am Fuß des Wallberges bildet, eine halbe Stunde vom Enterrottacher Hofe entfernt, fallen die Wände in das Flußbett jenes Gewässers herab. In dem Labyrinth derselben verbargen die Wildschützen ihre Büchsen und sich selbst bis zum Anbruch der Nacht, um hierauf mit der im Rucksacke untergebrachten Beute das Thal und den Heimweg zu gewinnen. Zur selben Zeit aber ging drunten eine baierische Grenzjägerstreifwache vorbei, und diese hörte das Herabkollern des Steingerölls und endlich das Geflüster der Wilderer, welche sich in vollkommener Sicherheit wähnten. Die drei Grenzjäger trafen rasch Vorbereitungen, um die vermeintlichen Schmuggler zu fangen; von der Finsterniß begünstigt vertheilten sie sich unbemerkt am Ufer. Die Wildschützen langten am Rottachufer an, durchwateten den Fluß und stiegen am rechten Felsenufer zum Sträßchen hinan. Nun erscholl vor und hinter ihnen drohender Haltruf; die Wilderer wähnten, den Förster und seine Gehülfen gegen sich zu haben, warfen die Jagdbeute weg und sprangen zurück in das Flußbett, um in dem jenseitigen Gewände sich zu bergen. Die Grenzjäger verfolgten sie durch das Flüßchen, aber die Wilderer waren flinker und hatten einen Vorsprung gewonnen. Somit sandten ihnen die Ersteren mehrere Schüsse aus ihren Karabinern nach. Die Kugeln schlugen an die Felsen nächst den Fliehenden, daß die Splitter wegflogen und der Donner schrecklich durch die Schluchten tönte. Dann aber war Alles ruhig wie zuvor, und endlich scholl von hoch oben her das Hohnlachen der Entronnenen. An einem der nächsten Tage aber kam zum Bader von Brandenberg in Tyrol ein Bursche aus Baiern, um sich einen Steinsplitter, der schmerzhaft in der rechten Wange saß, aufschneiden zu lassen. Der Verwundete war längst im Verdachte als Wilderer, und über die Ursache der Verwundung konnte er sich nicht recht ausweisen. Die Grenzer waren aber nicht wenig überrascht, als sie, den weggeworfenen Sack untersuchend, statt der Seiden- oder sonstigen Schmuggelwaren eine Gemse fanden.

Außer den Gemsjägern sind es dann noch einige sogenannte „Ameiser“, d. h. Sammler von Ameiseneiern (Puppen-, frische, mit dem Gebirge und dem Nomadenleben in demselben wohl vertraute Männer, welche an diesen Wänden und unter den Latschen herumklettern, um Ameisenhäuser zu suchen, welche dort bis sechs Fuß hoch und vier bis fünf Fuß im Durchmesser gefunden werden. Es ist interessant, die Ameiser bei ihrem Geschäfte zu sehen. Kaum ist ein Haus gefunden, so reißt es Einer mittels einer Schaufel rasch auf, die Ameise aber stürzt sich schnell auf eine Puppe, um sie zu verbergen, und nach wenigen Minuten wäre der ganze Puppenstock von den zahllosen Arbeitsameisen verschleppt, wenn nicht eiligst zugegriffen würde. Ein Ameiser öffnet nun einen weiten, langen dichten Zwillichsack, und ein Anderer faßt

  1. Das Loos bezieht sich auf die Soldaten-Conscription; auf das Sterzinger Moos gehören nach dem Sprüchwort die alten Jungfern.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_182.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)